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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 12 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Noricus Offline



Beiträge: 2.362

25.06.2016 15:14
Das unentdeckte Land oder: Präzedenzfall Brexit? Antworten

Im Titel Shakespeare, im Text Schiller: Europäischer geht es kaum.

Der Brexit wird eine spannende Angelegenheit, setzt er doch Maßstäbe und Erwartungshaltungen für mögliche weitere Austrittsfälle.

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

25.06.2016 15:27
#2 RE: Das unentdeckte Land oder: Präzedenzfall Brexit? Antworten

Ich muss mich für die winzige Schriftgröße des ZR-Beitrags entschuldigen. Es stimmt offenbar etwas im HTML-Text nicht, ich hoffe auf baldigen Support und auf baldige bessere Lesbarkeit.

Doeding Offline




Beiträge: 2.612

25.06.2016 17:55
#3 RE: Das unentdeckte Land oder: Präzedenzfall Brexit? Antworten

Zitat von Noricus im Blog
Es steht zu vermuten, dass sich die Union zunächst hartleibig zeigen und einer Rosinenpickerei durch das Vereinigte Königreich eine Absage erteilen wird, um einen Domino-Effekt zu verhindern. Aber ob man das auf lange Sicht durchhalten wird?



Das scheint mir, lieber Noricus, die zentrale Frage zu sein. Die Verhandlungen dürften ungemein schwierig werden, denn nicht nur die EU hat ja ein Interesse (aus ihrer Innensicht und Logik heraus jedenfalls), Rosinenpickerei zu verhindern. Auch die Briten werden das Schicksal des jeweiligen Premiers immer wieder daran knüpfen, Erfolge mit nach Hause zu bringen. Dazu ein riesiges öffentliches Interesse. Wenn man sich dann noch den Artikel 3 der einschlägigen Regelung anschaut:

Zitat von EU-Vertrag Art. 50
(3) Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.



...dann ist da schon eine Menge Musik drin. Was, wenn die Verhandlungen (was zu erwarten ist) für längere Zeit festgefahren bleiben? Oder wenn der Rat einer Fristverlängerung nicht zustimmt? Gelten dann die bis dahin erzielten Teilergebnisse oder braucht es ein Gesamtpaket? Und wie kann man sich eine solche Stichtagsregelung überhaupt vorstellen, wenn inhaltlich nichts hinreichend geregelt ist? Das ist doch kaum zu organisieren? Und wenn im gegenseitigen Einvernehmen die Frist doch immer wieder verlängert wird, kann das ganze möglicherweise auch 20 Jahre dauern (und so zu einer strategischen Möglichkeit werden, den Brexit am Ende ganz zu verhindern).

Jedenfalls ist die momentan aus Brüssel zu vernehmende "Jetzt aber dalli"-Rhetorik ziemlich unrealistischer Mumpitz.

Herzliche Grüße,
Andreas

"Man kann einen gesellschaftlichen Diskurs darüber haben, was Meinungsfreiheit darf. Oder man hat Meinungsfreiheit." (Christian Zulliger)

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 13.525

25.06.2016 19:52
#4 RE: Das unentdeckte Land oder: Präzedenzfall Brexit? Antworten

Zitat von Noricus in ZR
„We’re out“, titelte der Internet-Auftritt der Daily Mail bereits vor Beendigung des Auszählvorganges zum Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union. Ungeachtet des nun vorliegenden Endergebnisses und der in den Medien teilweise verbreiteten Weltuntergangsstimmung ist diese Aussage natürlich grundfalsch.



Formaljuristisch ist das richtig; dennoch dürfte die Mail hier den Kern richtig benannt haben. Hier ist ein Schlußstrich gezogen worden; ein neues Kapitel beginnt. Ob die Scheidung Knall-auf-Fall erfolgt oder erst noch 24 Monate um die Modalitäten für das Sorgerecht gestritten wird, ist für das Ob einer Trennung recht belanglos. Alle weiteren Detailfragen stehen unter der klaren Prämisse des fait accompli. Hinhaltetaktiken der Rest-EU werden jetzt nur noch als Abschreckungsmaßnahmen gegenüber anderen unsicheren Kantonisten gesehen werden. Die Frage, ob die Abwicklung bzw. Neuaustarierung im temporären Schutzraum von endlosen Rundtischtafelrunden oder einem Vakuum stattfinden wird, ist gegenüber dem factum brutum des Zerbrechens des bisherigen EU-Alternativlosigkeit höchst sekundär (und die Erfahrung aus der Konkursmasse des letzten Supranationalismus, der in die Binsen ging, legt nahe, daß das Vakuum, auf mittlere Sicht gesehen, vorzuziehen ist).

Rekurse auf innerbritische Dissenze übersehen, daß die jahrhundertealte Vorläufe haben & die Modalitäten dazu im Ausgang des 19. Jhdts. gefunden wurden (Stichwort in allen 3 Fällen, Schottland/Wales/Irland "Home Rule"). Sie nutzen die Gelegenheit, um sich zu Gehör zu bringen ("wodurch er kundzutun beliebt / daß es ihn immerhin noch gibt"); aber an ihren Chancen, ihren Möglichkeiten & der Tatsache, daß sie im binnenpolitischen Gefüge des UK seit Jahrzehnten genau keine Rolle spielen, ändert das nichts.



PS. Ich sehe gerade, daß Markus Somm in der Basler meine Einschätzung eines Epochenbruchs teilt:

Zitat von 'Götterdämmerung'
Wir erleben Epochales. Nach dem Fall der Berliner Mauer, als die Befreiung Osteuropas vom Kommunismus besiegelt wurde, hat sich in Europa kaum Bedeutenderes ereignet. Am 24. Juni 2016, dem Tag, nachdem sich die Briten mit einer eindeutigen Mehrheit gegen die EU gewandt haben, ist Europa nicht mehr der gleiche Kontinent wie zuvor, er wird es nie mehr sein. Wir erwachen aus einem technokratischen Albtraum.



http://bazonline.ch/ausland/goetterdaemmerung/story/16664517

Ich erinnere mich da noch an Freitag, den 10. November 89. Ich war gerade in einer Fortbildung; & der Einzige, der an dem Morgen vorbeischaute. An die Frage des Dozenten, wo-die-alle-seien & meine Auskunft "die feiern Wiedervereinigung". Und mein Erstaunen, daß es Leute gab, denen das nicht in der Nacht vor, spätestens ab 10 Uhr, unumstößlich klar geworden war.

Und, wichtiger:

Zitat von baronline.ch
Wenn die EU scheitern sollte, und das dürfte nur mehr eine Frage der Zeit sein, dann ist sie an einer der ältesten und reifsten Demokratien in Europa gescheitert.
...
In gewissem Sinne gleichen sich die beiden Einschnitte, 1989 und 2016: Beide Male ging es um die Rettung der Demokratie, beide Male hat die Demokratie gesiegt. Denn irren wir uns nicht: Bei der EU handelt es sich vermutlich um einen der gefährlichsten Entdemokratisierungsversuche seit dem Ancien Régime; eine Refeudalisierung war in Brüssel im Gang, wo ungewählte Kommissare und Funktionäre sich anschickten, unser Leben zu prägen und unsere Wirtschaft und Politik umzuformen, mit Auswirkungen bis selbst in die Schweiz, dem Nie-Mitglied.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Fluminist Offline




Beiträge: 2.015

26.06.2016 12:38
#5 RE: Das unentdeckte Land oder: Präzedenzfall Brexit? Antworten

Zitat von Doeding im Beitrag #3
Wenn man sich dann noch den Artikel 3 der einschlägigen Regelung anschaut:

Zitat von EU-Vertrag Art. 50
(3) Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.

...dann ist da schon eine Menge Musik drin. Was, wenn die Verhandlungen (was zu erwarten ist) für längere Zeit festgefahren bleiben? Oder wenn der Rat einer Fristverlängerung nicht zustimmt? Gelten dann die bis dahin erzielten Teilergebnisse oder braucht es ein Gesamtpaket? Und wie kann man sich eine solche Stichtagsregelung überhaupt vorstellen, wenn inhaltlich nichts hinreichend geregelt ist? Das ist doch kaum zu organisieren? Und wenn im gegenseitigen Einvernehmen die Frist doch immer wieder verlängert wird, kann das ganze möglicherweise auch 20 Jahre dauern (und so zu einer strategischen Möglichkeit werden, den Brexit am Ende ganz zu verhindern).


Letzteres erscheint mir wegen der erforderlichen Einstimmigkeit unwahrscheinlich. Ich lese das eher so, daß die britische Regierung unter Druck stehen wird, innerhalb 2 Jahren nach der Austrittserklärung einen brauchbaren Vertrag hinzuzimmern, andernfalls mit leeren Händen (d.h. nur anderen schon bestehenden Verträgen wie WTO) dazustehen, was das Land wirtschaftlich sehr isolieren würde. Da diese Befristung allen Verhandlungspartnern bekannt ist und die EU-Seite dabei nichts zu verlieren hat, macht das die Verhandlungspositionen von vornherein ungleich und die britische Seite beliebig erpreßbar: die EU braucht nur in gewohnter Weise auf stur zu schalten und den Ablauf der 2 Jahre abzuwarten.

Daher wäre die britische Regierung gut beraten, die Anwendung des Art. 50 nicht zu hastig vorzunehmen.

Zitat von Doeding im Beitrag #3
Jedenfalls ist die momentan aus Brüssel zu vernehmende "Jetzt aber dalli"-Rhetorik ziemlich unrealistischer Mumpitz.

Volle Zustimmung. Diese Forderung ist besonders absurd aus dem Munde derer, die sich in der Vergangenheit nicht sonderlich um Abstimmungsergebnisse geschert haben, wenn sie ihnen nicht in den Kram gepaßt haben. 51,8% ist zwar formal eine Mehrheit, aber nicht gerade ein Erdrutsch, und eine sehr schwache Basis für eine so weitreichende und einschneidende Entscheidung. Jedenfalls steht die britische Regierung (wer immer sie nun leiten wird) vor dem großen Problem, eine Situation herzustellen, die von "nur" der Hälfte der Bevölkerung abgelehnt wird und nicht von allen.

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

26.06.2016 16:32
#6 RE: Das unentdeckte Land oder: Präzedenzfall Brexit? Antworten

Zitat von Doeding im Beitrag #3

Zitat von EU-Vertrag Art. 50
(3) Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.


...dann ist da schon eine Menge Musik drin. Was, wenn die Verhandlungen (was zu erwarten ist) für längere Zeit festgefahren bleiben? Oder wenn der Rat einer Fristverlängerung nicht zustimmt? Gelten dann die bis dahin erzielten Teilergebnisse oder braucht es ein Gesamtpaket? Und wie kann man sich eine solche Stichtagsregelung überhaupt vorstellen, wenn inhaltlich nichts hinreichend geregelt ist? Das ist doch kaum zu organisieren? Und wenn im gegenseitigen Einvernehmen die Frist doch immer wieder verlängert wird, kann das ganze möglicherweise auch 20 Jahre dauern (und so zu einer strategischen Möglichkeit werden, den Brexit am Ende ganz zu verhindern).



Man muss den Art. 50 EUV wohl wirklich vor dem Hintergrund sehen, dass er im Vertrag von Lissabon als eine Art Zuckerl für die EU-Skeptiker bzw. -Kritiker dienen sollte. Es muss nicht immer vorwärts gehen, man kann eine EU-Mitgliedschaft auch rückabwickeln. Die Zweijahresfrist ist für den scheidenden Mitgliedstaat nicht unbedingt nachteilig. Dürfte er nur gehen, wenn es ein Austrittsabkommen gibt, könnte die EU letztlich die Klauseln dieser Vereinbarung diktieren.

Aber: Wie im Blog geschrieben, praktikabel ist ein solches automatisches Ende nach Fristablauf natürlich nicht. Man kann ja nicht einfach einen Schalter umlegen und plötzlich ist alles anders. "Altfälle" wird man nicht einfach der neuen Rechtslage unterwerfen können. Was will man mit dem kontinentaleuropäischen Arbeitnehmer tun, der seit Jahren im UK arbeitet (oder mutatis mutandis mit einem britischen Arbeitnehmer) und sich dort ein Haus gekauft hat? Will man plötzlich dessen rechtmäßig zustande gekommenen Arbeitsvertrag den Ausländerbeschäftigungsregeln und seinen schon vor langem über die Bühne gegangenen Eigentumserwerb allfälligen Kapitalverkehrskontrollvorschriften unterwerfen? Da wird man schnell an nationalverfassungsrechtliche, unionsprimärrechtliche und auch völkerrechtliche Grenzen stoßen. Und als Rechtsstaatler kann man nicht hoffen, dass der "Sieg der Demokratie" zu einem Pyrrhussieg für die Privatautonomie und den Eigentumsschutz wird.

EDIT: "Pyrrhussieg" in der letzten Zeile ist falsch. "Niederlage" wäre richtig.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 13.525

26.06.2016 17:51
#7 RE: Das unentdeckte Land oder: Präzedenzfall Brexit? Antworten

Zitat von Noricus im Beitrag #6
Will man plötzlich dessen rechtmäßig zustande gekommenen Arbeitsvertrag den Ausländerbeschäftigungsregeln und seinen schon vor langem über die Bühne gegangenen Eigentumserwerb allfälligen Kapitalverkehrskontrollvorschriften unterwerfen?


Und? Wenn es eine juristische Körperschaft gibt, die damit umgehen kann, dann die englische. Das Rechtssystem ist Präzedenzfallorientiert. Geprobt worden ist das zuerst in den 4 Jahren der Verhandlungen zur Eingemeindung Schottlands 1707 & seitdem bei der Rückabwicklung des Empire seit Australien 1900. Pacta sunt servanda; wenn in Bestehendes reingegrätscht wird, dann von der Außenpartei: die Quisquilien in Sachen Hongkong illustrieren das als neuester Fall. Verlängerungen tragen den neuen Rahmenbedingungen Rechnung.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

26.06.2016 21:18
#8 RE: Das unentdeckte Land oder: Präzedenzfall Brexit? Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #4

Zitat von Noricus in ZR
„We’re out“, titelte der Internet-Auftritt der Daily Mail bereits vor Beendigung des Auszählvorganges zum Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union. Ungeachtet des nun vorliegenden Endergebnisses und der in den Medien teilweise verbreiteten Weltuntergangsstimmung ist diese Aussage natürlich grundfalsch.


Formaljuristisch ist das richtig; dennoch dürfte die Mail hier den Kern richtig benannt haben. Hier ist ein Schlußstrich gezogen worden; ein neues Kapitel beginnt. Ob die Scheidung Knall-auf-Fall erfolgt oder erst noch 24 Monate um die Modalitäten für das Sorgerecht gestritten wird, ist für das Ob einer Trennung recht belanglos.



Ganz und gar nicht. Denn bisweilen wird, wenn um die Modalitäten der Trennung gestritten wird, offenbar, dass man sich die Trennung gar nicht leisten kann und dass man sich alles einfacher vorgestellt hat, als es ist.

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #4
Rekurse auf innerbritische Dissenze übersehen, daß die jahrhundertealte Vorläufe haben


Das mag schon stimmen. Aber für die Schotten hat sich wirklich etwas verändert. Ihre Unabhängigkeit ist, wenn es einen Brexit gibt, nicht mehr zwangsläufig mit einem Ausschluss aus der EU verbunden.


Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #4
PS. Ich sehe gerade, daß Markus Somm in der Basler meine Einschätzung eines Epochenbruchs teilt:

Zitat von 'Götterdämmerung'
Wir erleben Epochales. Nach dem Fall der Berliner Mauer, als die Befreiung Osteuropas vom Kommunismus besiegelt wurde, hat sich in Europa kaum Bedeutenderes ereignet. Am 24. Juni 2016, dem Tag, nachdem sich die Briten mit einer eindeutigen Mehrheit gegen die EU gewandt haben, ist Europa nicht mehr der gleiche Kontinent wie zuvor, er wird es nie mehr sein. Wir erwachen aus einem technokratischen Albtraum.


http://bazonline.ch/ausland/goetterdaemmerung/story/16664517

Ich erinnere mich da noch an Freitag, den 10. November 89. Ich war gerade in einer Fortbildung; & der Einzige, der an dem Morgen vorbeischaute. An die Frage des Dozenten, wo-die-alle-seien & meine Auskunft "die feiern Wiedervereinigung". Und mein Erstaunen, daß es Leute gab, denen das nicht in der Nacht vor, spätestens ab 10 Uhr, unumstößlich klar geworden war.



Somms Pathos ist nicht nach meinem Geschmack, aber de gustibus non est disputandum. Er hat auch in der Sache Unrecht. Die Wiedervereinigung war am 9.11.89 durch, da stimme ich Dir zu. Eine tragfähige Alternative gab es schlechterdings nicht. Der Beitritt erfolgte, bevor offenbar wurde, welche Herkulesaufgabe die Wiedervereinigung sein würde. Beim Brexit wird das anders sein: Während der Austrittsverhandlungen werden sich die Schwierigkeiten und Kosten des Brexit jedenfalls in ihren Konturen zeigen.

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #4
Und, wichtiger:

Zitat von baronline.ch
Wenn die EU scheitern sollte, und das dürfte nur mehr eine Frage der Zeit sein, dann ist sie an einer der ältesten und reifsten Demokratien in Europa gescheitert.
...
In gewissem Sinne gleichen sich die beiden Einschnitte, 1989 und 2016: Beide Male ging es um die Rettung der Demokratie, beide Male hat die Demokratie gesiegt. Denn irren wir uns nicht: Bei der EU handelt es sich vermutlich um einen der gefährlichsten Entdemokratisierungsversuche seit dem Ancien Régime; eine Refeudalisierung war in Brüssel im Gang, wo ungewählte Kommissare und Funktionäre sich anschickten, unser Leben zu prägen und unsere Wirtschaft und Politik umzuformen, mit Auswirkungen bis selbst in die Schweiz, dem Nie-Mitglied.



Der Kommissionspräsident ist nicht ungewählt, und z.B. Heiko Maas habe (und hätte) ich nie gewählt. Die EU ist auch kein Entdemokratisierungsversuch, sondern der - wie man sieht - nicht funktionierende Versuch, aus einer Wirtschaftsgemeinschaft eine politische Union zu zimmern. Wer sind noch einmal die Herren der Verträge? Genau, die Mitgliedstaaten, die genau die EU vorfinden, die sie selbst durch ihre demokratisch legitimierten Vertreter geschaffen haben.

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

26.06.2016 21:19
#9 RE: Das unentdeckte Land oder: Präzedenzfall Brexit? Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #7
Zitat von Noricus im Beitrag #6
Will man plötzlich dessen rechtmäßig zustande gekommenen Arbeitsvertrag den Ausländerbeschäftigungsregeln und seinen schon vor langem über die Bühne gegangenen Eigentumserwerb allfälligen Kapitalverkehrskontrollvorschriften unterwerfen?


Und? Wenn es eine juristische Körperschaft gibt, die damit umgehen kann, dann die englische.


Dein Wort in Gottes Ohr.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

27.06.2016 12:15
#10 RE: Das unentdeckte Land oder: Präzedenzfall Brexit? Antworten

Zitat
Möglicherweise hat sich das Vereinigte Königreich mit dem Pro-Exit-Votum seinen Fukushima-Moment geschaffen. „Nach der kollektiven Besoffenheit der Kater“, um Zettels Worte zu entlehnen.


Sieht so aus.
Es ist zwar schwer abzuschätzen, wie repräsentativ die "Bregret"-Fälle wirklich sind. Noch sind viele Brexit-Fans im Vollrausch-Modus.
Aber während viele Wähler in den wirtschaftlich abgehängten Gebieten, die für die Brexit-Mehrheit gesorgt haben, den Kurseinbruch an der Börse eher mit Häme sehen werden (trifft ja nur die pösen internationalen Kapitalisten): Den Absturz des britischen Pfunds werden sie sehr schnell schmerzlich spüren - beim nächsten Besuch an der Tankstelle und den anstehenden Sommerurlauben auf Mallorca etc.
Von den üblichen Vorteilen einer schwachen Währung werden sie aber nichts mitbekommen. Die sind nicht nur eher mittelfristig, die werden auch kompensiert durch die Zurückhaltung der Investoren.

Zitat
Dass der katholische Pan-Hibernismus durch das Brexit-Referendum Auftrieb erhält, dürfte ausgemacht sein.


Auftrieb schon, aber Nord-Irland ist viel unklarer als Schottland.
Für den Brexit waren in Nord-Irland (wie in England) die wirtschaftlich schwachen Regionen. Aber nur die protestantischen. Und die werden auch bei England bleiben wollen.
Die katholischen Gebiete waren gegen den Brexit und sie werden (wie schon immer) für eine Wiedervereinigung mit Irland sein.

Ausschlaggebend für die klare Pro-EU-Mehrheit war der Großraum Belfast. Und wirtschaftlich wäre für Belfast die Union mit Irland attraktiv. Aber es könnte die doppelte Marginalisierung als protestantische Minderheit und als Provinzstadt gegenüber der Metropole Dublin bedeuten.

Zitat
Für die Schotten könnte der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU die historische Chance bieten, unabhängig zu werden und zugleich im europäischen Staatenverbund zu verbleiben.


Richtig. Wenn der Brexit kommt, wird Schottland sich abspalten. Denn genau die Wähler, die sich am Klein-Klein-Nationalismus der Separatisten gestört haben und deswegen beim letzten Referendum für das UK gestimmt haben - die werden jetzt keine Lust auf den Klein-Klein-Nationalismus der UKIP haben. Es wird eine klare Mehrheit für ein unabhängiges Schottland innerhalb der EU geben. Wenn der Brexit wirklich kommt.

Zitat
Ob sich Edinburgh hinsichtlich einer EU-Mitgliedschaft dann hinten anstellen muss ...


Wohl nicht. Und das hätte auch nichts damit zu tun, die Engländer zu ärgern.
Es ist offensichtlich, daß Schottland alle EU-Kriterien vom Start weg erfüllt und damit anders zu behandeln wäre als Albanien o.ä.

Zitat
Denn was man Caledonia gewährt, wird man zum Beispiel Katalonien nicht verweigern können.


Nein. Solange Spanien in der EU bleibt, gibt es aus europäischer Sicht keinen Grund für eine katalanische Abspaltung. Die Grundidee der EU ist Zusammenwachsen, nicht Aufteilen.

Zitat
Von den wirtschaftlichen Verwerfungen und sich selbst erfüllenden Prophezeiungen, welche die Ungewissheit über die zukünftigen Beziehungen des Vereinigten Königreichs zur Union mit sich bringen kann, ganz zu schweigen.


Und alle diese Risiken sind von den meisten Brexit-Wählern offenbar ausgeblendet worden. Genau wie die völlig erwartbare Reaktion der Schotten.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 13.525

27.06.2016 12:33
#11 RE: Das unentdeckte Land oder: Präzedenzfall Brexit? Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #10
Ausschlaggebend für die klare Pro-EU-Mehrheit war der Großraum Belfast. Und wirtschaftlich wäre für Belfast die Union mit Irland attraktiv. Aber es könnte die doppelte Marginalisierung als protestantische Minderheit und als Provinzstadt gegenüber der Metropole Dublin bedeuten.


Der Konjunktiv kann da weggekürzt werden. In dem Fall knallt es. "The Troubles" 2.0; diesmal von der radikalen protestantischen Seite. Provinzstadt nicht so sehr, weil Dubbblin selbst ziemliche Provinz ist. Aber das politische Selbstverständnis ist da 100% auf die 400-jährige prostestantische Identität fokussiert, die sich überdies seit 1922 absolut marginalisiert vorkommt (die haben ja, bis Parnell & Co., 250 Jahre lang geschlossen das gestellt, was die Grüne Insel an Elite vorzuweisen hatte, Geistliche, Beamte, alle Studierten; Trinity College war bis zum Oxford Movement rein protestantisch; die Iren, die einem Kontinentalen da in-Sachen-Kultur einfallen - Yeats, Sheridan Le Fanu, Lady Gregory, GBS, Beckett, Æ, der wilde Oscar: alles Protest-Tanten; Joyce mal außen vor). Und das Milieu ist "englische Arbeiterklasse", ziemlich pover; wie Sheffield in den 50er/60ern. Und mit der alten konfessionalen Frontalopposition, die es in England schlicht nicht mehr gibt.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Noricus Offline



Beiträge: 2.362

27.06.2016 19:38
#12 RE: Das unentdeckte Land oder: Präzedenzfall Brexit? Antworten

Zitat von R.A. im Beitrag #10

Zitat
Denn was man Caledonia gewährt, wird man zum Beispiel Katalonien nicht verweigern können.

Nein. Solange Spanien in der EU bleibt, gibt es aus europäischer Sicht keinen Grund für eine katalanische Abspaltung. Die Grundidee der EU ist Zusammenwachsen, nicht Aufteilen.



Da hast Du mich missverstanden, weil ich mich unpräzise ausgedrückt habe. Ich meinte: Falls Spanien austreten sollte, kann man den Katalanen die EU-Mitgliedschaft nicht verweigern, wenn man diesbezüglich mit Schottland einen Präzedenzfall geschaffen hat. (Spanien und Katalonien waren lediglich Beispiele ohne Berücksichtigung des Wahrscheinlichkeitsgehaltes einer solchen Entwicklung.)

Für EU-freundliche Landesteile austrittswilliger Staaten wäre es natürlich ein willkommenes Signal, wenn sich der EU-Beitritt eines unabhängigen Schottland reibungslos gestaltet. Die besagten Landesteile könnten jedenfalls dann, wenn die nationale Verfassung einen Austritt aus dem "Bund" (im Sinne der nationalen Ebene) gestattet, einem EU-Austritt des Gesamtstaates gelassen entgegensehen und diesem die Rute der Abspaltung ins Fenster stellen. Für den Gesamtstaat wäre die Gefahr, (möglicherweise wirtschaftlich starke) Gebiete zu verlieren, vielleicht doch ein Schreckensszenario, das einen EU-Austritt in einem negativen Licht erscheinen lässt.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

28.06.2016 12:05
#13 RE: Das unentdeckte Land oder: Präzedenzfall Brexit? Antworten

Zitat von Noricus im Beitrag #12
Falls Spanien austreten sollte, kann man den Katalanen die EU-Mitgliedschaft nicht verweigern, wenn man diesbezüglich mit Schottland einen Präzedenzfall geschaffen hat.

Aber selbstverständlich. Da gilt der Präzedenzfall, und da ist er ja auch von der EU gewünscht.

Wobei das jetzt reine Theorie ist. M. W. gibt es in Spanien keine relevante politische Kraft, die einen EU-Austritt auch nur andenkt.

Generell sollte innerhalb der EU Sezession eigentlich gar kein Thema sein - weil die Grenzen ohnehin immer unwichtiger werden.

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