Liebe(r) Heavy Horse,
ich freue mich, wenn ältere Artikel in ZR wie dieser, auf den Sie sich beziehen, noch gelesen werden; und Kommentare sind auch zu diesen Artikeln immer willkommen. Zitat von Heavy Horse Die damaligen Produktionsverhältnisse waren meiner Meinung nach sehr wohl Fesseln, und zwar in zweifacher Weise: Einerseits wurden die streng monotonen Arbeitsabläufe und der vorherrschende Drill in den Fabriken (Disziplinarregime vgl. Foucault) als Entfremdung erlebt – die Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit war groß - und andererseits konnte der Industriekapitalismus sein Wachstum mit den Mitteln des Fordismus nicht weiter ausweiten – die Häuser waren wieder aufgebaut und jede Familie hatte bereits ihr eigenes Auto (Wirtschaftskrise der 70er Jahre). Neue Märkte mussten erschlossen werden: Weg von der ausschließlich materiellen Produktion des Fordismus, hin zur vorwiegend immateriellen Produktion des Postfordismus (Stichwort „affektiver Kapitalismus“ bzw. „Dienstleistungsgesellschaft“ bzw. „Kontrollregime“ (vgl. Deleuze)).
Sie nennen zwei Punkte: Entfremdung und Dienstleistungsgesellschaft.
Entfremdung: Ich weiß nicht, ob viele Fließbandarbeiter (das meinen Sie, wenn ich Sie recht verstehe, mit "Fordismus") mit diesem Begriff viel anfangen können, den ja auch fast nur der junge Marx benutzt hat (er hatte ihn von Hegel). Im "Kapital" spielt die Entfremdungstheorie kaum noch eine Rolle.
Aber nehmen wir einmal an, Fließbandarbeiter erlebten das, was Marx in den - wenn ich mich recht erinnere - Pariser Manuskripten als die dreifache Entfremdung bezeichnet hat: Von seiner Arbeit, von deren Produkt und von sich selbst.
Dann war das ja gewiß auch vor 1967 so. Warum aber führte es da nicht zur Revolte? Aus meiner Sicht aus den Gründen, die ich in dem Artikel genannt habe: Solange die materielle Not groß ist, kümmert einen die Entfremdung nicht. Sie wird erst - wenn überhaupt - als etwas Negatives erlebt, wenn die materiellen Probleme nicht mehr im Vordergrund stehen. Und das war (so meine These) erstmals im zwanzigsten Jahrhundert bei der Generation der um 1950 Geborenen der Fall, plusminus fünf Jahre.
Dienstleistungsgesellschaft: Das war ja ein allmählicher Wandel. Jobs in der Industrie fielen weg (auch damals sprach man schon von Automation), neue entstanden im Bereich der Dienstleistungen. Ich sehe aber nicht, warum das ein Grund zur Revolte hätte sein sollen.
Zitat von Heavy Horse „Fleiß, Disziplin, Gehorsam, vor allem auch Anpassung“ entsprachen eben den Produktionsstrategien einer monotonen, auf Fließbandarbeit ausgerichteten fordistischen Produktion in den Fabriken. Deshalb auch die vorherrschende Rolle der Disziplin in der Schulbildung. Die Kinder wurden darauf gedrillt in Reih und Glied stramm zu stehen, sich zu beherrschen, der Autorität des Lehrers ( in der Fabrik dann der Vorgesetzte) bedingungslos zu gehorchen und dessen Befehle zu befolgen. Fähigkeiten eben, auf die es in der monotonen Serienfertigung am Fließband ankommt. Gefühle und Selbstverwirklichung hatten hier keinen Platz.
Ich weiß nicht, ob diese These stimmt. Ich halte sie für sehr gewagt. Denn dieser Drill ist ja älter als das Fließband.
Die Kinder in Preußen wurden so von ihren Schulmeistern gedrillt, oft ausgediente Soldaten. In den Kirchen mußte man mucksmäuschenstill sein. Ich habe in der Volksschule, wie sie damals hieß, diesen Unterricht noch erlebt, in dem vor allem absolute Stille verlangt wurde. Wer "schwätzte", mußte (auch das habe ich noch erlebt) vortreten, die Hände horizontal halten und Schläge mit dem Rohrstock auf sie empfangen.
Das war nicht Ford, das war der Soldatenkönig. Es war nicht die Moral des Fließbands, sondern die von Staaten wie Preußen, die sich durch eiserne Pflichterfüllung aus ihrem Elend herausarbeiteten. 150 Jahre vor der Erfindung des Fließbands.
Gefühle und Selbstverwirklichung, liebe(r) Heavy Horse, hatten im Berufsleben nie einen Platz; sieht man von Künstlern und vielleicht noch Wissenschaftlern ab. Allein der Gedanke, sie könnten ihn dort haben, konnte eben erst in dieser Generation der um 1950 Geborenen entstehen, die im wachsenden Wohlstand aufgewachsen waren.
Zitat von Heavy Horse In der Produktion des Postfordismus, die primär auf die Verwertung von Gefühlen und Informationen abzielt, sind diese Tugenden nun nicht mehr gefragt. Sie ist auf Subjektformen angewiesen, die kreativ, lebendig/produktiv, kommunikativ und eigenverantwortlich (unternehmerisch) agieren.
Das stimmt für einige Sektoren. Im Mediensektor, da haben Sie Recht, gibt es so etwas wie die "Verwertung von Gefühlen und Informationen"; in der Werbebranche.
Aber dort arbeitet ja nur eine kleine Minderheit der Beschäftigten. Für die meisten gilt es immer noch, Produkte herzustellen; dabei fleißig und diszipliniert zu sein. Oder als Dienstleister seine Kunden zufriedenzustellen. Aber wenn ich einen Handwerker kommen lasse oder zum Friseur gehe, dann spielen ja auch dort Gefühle keine sehr große Rolle. 
Und ein zweites: Das, was Sie beschreiben, mag in den genannten Branchen Medien und Werbung der Fall sein. Aber dort waren diejenigen ja gar nicht tätig, die rebellierten. Es waren überwiegend Studenten. Ihr Lebensgefühl war überhaupt nicht von der Arbeitswelt bestimmt. Sie hatten von dieser gar keine Ahnung.
Sondern sie hatten seit ihrer frühen Kindheit erfahren, wie alles immer besser wurde. Sie hatten fast alles bekommen, was sie wollten; auch ohne sich besonders anzustrengen. Sie hatten überwiegend keine materiellen Sorgen.
Also waren sie erstens Moralisten und zweitens Hedonisten; was ja kein Widerspruch ist. Sie wollten alles, und zwar sofort - alles, was ihre Lust anging (was im Extrem in die Rauschigiftabhängigkeit führte) und alles, was die Schaffung einer idealen Welt anging (was im Extrem in den Terrorismus führte).
Mit Produktivkräften und deren Fesseln, mit Entfremdung und Dienstleistungsgesellschaft hatte das aus meiner Sicht wenig zu tun. Das haben sich Autoren wie die von Ihnen zitierten ausgedacht; es ist weder empirisch belegt, noch erscheint es mir plausibel.
Herzlich, Zettel
PS: Willkommen im kleinen Zimmer!
Edit: fast ergänzt
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