Liebe Nola,
das ist aus meiner Sicht ein hochinteressanter Fund! Ich habe einmal nachgesehen, wer diesen Text ins Netz gestellt hat, es sind "Berliner Freunde der Völker Rußlands e.V.", die im Berliner "Russischen Haus" residieren und sich z.B. um die Pflege sowjetische Ehrenmale kümmern. Wer dahintersteckt, habe ich bisher nicht herausgefunden; eine Nähe zum russischen Staat liegt schon aufgrund der Adresse nahe.
Der Text ist offenbar das Manuskript eines Vortrags auf einer Konferenz; leider fehlen alle näheren Angaben, vor allem auch eine Datierung. Man kann also nicht beurteilen, ob ein Bezug zu den aktuellen Ereignissen besteht. Wahrscheinlich nicht, denn sie werden nicht erwähnt.
Dies vorausgeschickt - ich kann die Lektüre dieses Textes wirklich nur dringend empfehlen.
Als ich nachgesehen habe, wer dieser Igor F. Maximytschew eigentlich ist, bin ich auf diese Information aus der Zeitschrift "WeltTrends" gestoßen:
Zitat von WeltTrends Prof. Dr., geb. 1932, von 1956 bis 1993 im diplomatischen Dienst der UdSSR bzw. Russlands, u.a. 1987-1992 Gesandter an der Botschaft Unter den Linden in Berlin. Seit 1993 Leiter des Bereichs "Europäische Sicherheit" am Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau. E-Mail: igormaxim@mtu-net.ru
Also ein Deutschland-Experte des Kreml. Und nun wird es interessant. Der Text in "WeltTrends" geht nämlich dem Abstract eines Artikels von Maximytschew voraus:
Zitat von WeltTrends Igor F. Maximytschew: Russia in an Unstable World (WeltTrends 43, Summer 2004, pp. 79-86) From the Russian perspective, the author describes the danger of a hegemonic US, dominating the world's fate, weakening the UN and endangering peace. A counterweight to the US domination could be stronger ties between Western Europe and Russia. The rise of the Franco-German-Russian troika has been the only positive effect of the Iraq war. But not all members of the EU seem to recognise the necessity of a "Great Europe" from Reykjavik to Wladiwostok. Especially the new members of NATO and EU are vassals of the US and exhibit strong anti-Russian resentments.
Der Text stammt vom Sommer 2004, als Schröder noch Kanzler und Chirac noch Staatspräsident war.
Was damals die meisten nicht gesehen haben, nennt der Autor mit "Französisch-Deutsch-Russische Troika" beim Namen: Es ging darum, Westeuropa aus der transatlantischen Allianz lösen und in eine Allianz mit Rußland zu führen. Das ist ein alter Traum Rußlands; von Stalin bis Breschnew war dies das Ziel. Nur die Festigkeit aller Kanzler von Adenauer bis Kohl hat es verhindert, daß die Russen diese Pläne realisieren konnten.
Schröder war bereit, den Russen ihren langjährigen Wunsch zu erfüllen und zugleich Chirac das Geschenk zu machen, das Adenauer de Gaulle, das Kohl Mitterand verweigert hatte - eine gegen die USA gerichtete deutsch-französische Allianz.
Nun also zu dem Text von Maximytschew. Es geht bis auf die letzten Seiten um den Frieden von Brest-Litowsk, und dazu schreibt er viel Interessantes. (Zum Beispiel, daß dieser Friede ein Vorbild für Hitlers Rußland-Pläne gewesen sein könnte).
Und dann also sozusagen die Nutzanwendung für die Gegenwart: Er sieht die Entwicklung nach 1990 als so etwas wie ein zweites Brest-Litowsk.
Die (von Maximytschew nicht direkt ausgesprochene) Konsequenz liegt auf der Hand: Ein Rußland, das so wiedererstarkt ist wie die UdSSR nach Brest-Litowsk, wird sich ebenso wieder das zurückholen, was man ihm genommen hat.
Die Parallele zu Deutschland nach dem Vertrag von Versailles, die ich schon einmal gezogen habe, wird hier ganz deutlich.
Ich empfehle dringend, diesen Text zu lesen, weil nach der Lektüre wohl niemand mehr glauben wird, daß die jetzige Aktion Putins nur eine Reaktion auf einen Einmarsch der Georgier nach Südossetien ist.
Nochmal vielen Dank für diesen Hinweis, liebe Nola. Ich werde in ZR auf den Text von Maximytschew zurückkommen.
Herzlich, Zettel
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