Lieber Gomez,
eigentlich würde ich viel lieber über Kant diskutieren (zB das Verhältnis zwischen der KrV und der KpV) als über Hegel. 
Ich gebe ja gern zu, ihn nicht zu vestehen, bezweifle aber, daß irgendwer ihn oder auch nur er selbst sich verstanden hat. Mein Verdacht ist, daß Hegelianer etwas ganz anderes mit "Verstehen" meinen als andere: Nämlich so etwas wie das Erlernen einer Terminologie, die so flexibel ist, daß man, wenn man sie erst einmal beherrscht, alles mit ihr abdecken (man könnte auch sagen: Den Schleier dieser Terminologie über alles legen) kann, was es auf Gottes weitem Erdenrund gibt.
Lassen Sie mich das nur an einem Beispiel erläutern, dem ersten Absatz in Ihrer Antwort:
Zitat von Gomez Eine Sache an sich kann durchaus etwas für den Erkennenden sein. Das ist das ganze Hegelsche Projekt. Die Sache an sich, um die es Hegel geht, ist das Denken.
Bei Kant heißt das Ding an sich deshalb so, weil es eben unabhängig vom Erkennenden existiert. Das ist eine Definition, die auf Aristoteles (kath' auto) zurückgeht, keine Existenzbehauptung. Akzeptiert man diese Definition, dann ist natürlich ex definitione ein Erkennen des Dings an sich nicht möglich, trivialerweise.
Was Hegel mit "an sich", "für sich" und "an und für sich" und vor allem "für den anderen" meint, darüber sind ja ganze Bibliotheken geschrieben worden.
Da, wo er das erklärt, erscheint er mir oft wie ein naiver Realist. "An sich" existiert etwas irgendwie isoliert, losgelöst vom Zusammenhang mit anderem. Sobald es erkannt wird, verwandelt es sich in ein "für den anderen", und wenn es gar sich selbst erkennt, in ein "für sich". Der Weg vom "an sich" zum "für sich" ist aber irgendwie auch so etwas wie eine Entfaltung, eine Entwicklung ähnlich der bei Aristoteles von der potentia zur actualitas.
Für Kant sind "Ding an sich" und "Erscheinung" erkenntnistheoretische Kategorien. Bei Hegel irgendwie vielleicht auch noch (wobei er, wie schon besprochen, nur "Sache an sich" oder "Gegenstand an sich" sagt). Aber irgendwie scheinen es auch ontologische Kategorien sein, so wie dynamis und energeia. Das ist, lieber Gomez, für mich alles so vage, daß ich, wenn ich es lese, mich nach Kants Klarheit zurücksehne. Woher weiß Hegel zum Beispiel, daß etwas "an sich" existiert, wo es doch, sobald er es erkennt, automatisch zu "für Hegel" wird?
Mir scheint - und das gilt nicht nur für dieses Beispiel -, daß dort, wo Kant sich redlich abmüht, wo er oft auch nicht zu einer ihn befriedigenden Lösung kommt, Hegel alle Probleme hinter diesem Schleier seiner flexiblen Terminologie verschwinden läßt.
Überhauopt - und lassen Sie mich damit zu einem allgemeineren Aspekt kommen - zeichnen sich diejenigen Philosophen, die ich schätze, dadurch aus, daß sie sich an Problemen abmühen, die sie manchmal lösen können, oft aber auch nicht. Und wo sie das dann auch zugeben oder erkennen lassen.
Das finden Sie bei bei Platon, der manche Fragen sozusagen im Dialog versanden läßt. Sie haben es regelmäßig bei Aristoteles, der noch viel mehr als Platon die Begabung hat, ein Problem hin- und herzuwenden, immer vor allem auf der Suche, es erst einmal begrifflich zu fassen, und der dabei sozusagen von einer Verlegenheit in die nächste taumelt. Auch bei ihm bleibt eine Frage oft offen.
Bei Kant durchzieht dies das ganze Werk. Manches, wie die transzendentale Ästhetik, die Kategorientafel, die Antinomien der reinen Vernunft hat er wohl als endgültig angesehen; aber in vielen anderen Bereichen - dazu gehört neben der Willensfreiheit und der Existenz Gottes vor allem auch das Problem des Dings an sich - war er sich der Unvollkommenheit seiner Bemühungen wohl sehr bewußt.
Bei Hegel, lieber Gomez, spüre ich davon nichts. ER scheint mit der wundersamen Gabe versehen, alles zu durchschauen, fast wie Kara Ben Nemsi. 
Nur scheint mir dieses Durchschauen eben nicht darin zu bestehen, daß man etwas im wissenschaftlichen Sinn besser versteht (also seine Eigenschaften, sein Funktionieren, die Gesetze, denen es unterliegt besser kennenlernt). Sondern wie schon gesagt: Hegel hat, so scheint mir, etwas nach seiner Meinung verstanden, wenn er es mittels der sehr eigenen Sprache, die er erdacht hat beschrieben hat.
Es folgt nichts daraus für das Handeln. Der Hegelianer weiß, wenn er Hegel in sich aufgenommen hat, nichts Neues über die empirische Welt oder auch sich selbst, mit dem er etwas anfangen kann. Gelernt hat er eine Terminologie.
Kant dagegen ist für die empirischen Wissenschaften relevant, und zwar sehr unmittelbar. Ich wundre mich immer wieder über die erkenntnistheoretische Naivität vieler analytischer Philosophen, wenn es um Themen wie Bewußtseinsforschung oder Quantenmechanik geht.
Damit, lieber Gomez, bin ich bei einem Thema, das ich - wenn Sie mögen - gern ein wenig vertiefen würde: Kant dachte naturwissenschaftlich. Hegel hat sich - soweit ich orientiert bin - in keine der damals sich entwickelnden Naturwissenschaften vertieft.
Für den Naturwissenschaftler ist die Frage, ob es ein Ding an sich gibt, nachgerade albern. Ja, natürlich, womit sonst befaßt er sich? Er wird es nie als Ding an sich analysieren können, das wäre kontradiktorisch, siehe oben. Aber daß es existiert, ergibt sich schon daraus, daß man richtige und falsche Aussagen machen kann. Aussagen, deren Richtigkeit und Falschheit sich im Kontakt mit der Realität erweist. Es gibt diese Realität, auch wenn wir sie immer nur in den uns gegebenen Kategorien fassen und uns vorstellen können. Sie zeigt sich in ihrer Widerständigkeit.
Wenn man es hingegen, wie Hegel offenbar annimmt, gar nicht mit einer objektiven, vom Geist unabhängigen Realität zu tun hat - wie kann man dann überhaupt wahre von falschen Aussagen über die Realität unterscheiden? Wozu überhaupt forschen?
Man ist dann sehr schnell bei einem Relativismus, wie er heute ja in Form des kulturellen Relativismus sich breiter Zustimmung erfreut.
Es ist diese Beliebigkeit, die bei Marx dann die völlige Unterordnung der Erkenntnis unter das Interesse ermöglicht hat.
Herzlich, Zettel
|