Vielleicht ist ja die Realität wirklich nur das, was man sich jeweils gerade darunter vorstellt, jedoch hilft die Vorstellung, es gäbe eine objektive Realität sehr dabei, sich vorzustellen, daß man sich jetzt in diesem Augenblick im Irrtum befinden könnte.
Und ohne diese Vorstellung wäre das Leben keine Komödie, und deshalb lasse ich sie mir von den Phänomenalisten, Solipsisten und Relativisten auch nicht nehmen!
Die Frage ist doch, ob man in einer Welt leben möchte, in der alles offen zutage liegt, die sich aber ständig ändert, oder in einer Welt, in der sich nur unsere Vorstellungen über sie ändern, während sie bleibt wie sie ist und uns gelassen übersteht?
Ohne eine Welt, die sich uns souverän entzieht, würde dem Handeln und dem Forschen der Ernst fehlen, wie etwa bei jenen Politikern, die jeden Tag eine feste Überzeugung haben.
Fazit: im Relativismus ist nichts richtig lustig und nichts richtig ernst. Ich mag ihn nicht.
Die Frage, ob es eine objektive Realität gibt, dürfte damit geklärt sein. Nun fragt sich noch, wie sie denn ist, diese Realität. Und da zeigt sich, daß wir erschreckenderweise in drei oder sogar vier Realitäten gleichzeitig leben, die miteinander unvereinbar strukturiert sind, die zwar zusammenhängen, wobei es aber es kaum vorstellbar ist, auf welche Weise.
Die erste ist die sprachlich-zwischenmenschliche Wirklichkeit. Sie enthält Personen, die miteinander kommunizieren, wobei sie Symbole benutzen, die sich, wie oben dargelegt, auf eine objektive, in diesem Fall intersubjektive Welt beziehen.
Die zweite ist die sinnlich-bewußte Realität, die Wirklichkeit unserer Wahrnehmungen, Gedanken, Weltvorstellungen. Im Vergleich zur ersten ist sie privat: das heißt, im Rahmen der ersten Realität betrachtet, gibt es die bewußten Vorstellungen auf zweierlei Weise, nämlich als die eigenen und die der anderen. Für uns selbst sind private Empfindungen manchmal die bedrängendste ungebändigste Wirklichkeit, während uns unsere diesbezüglichen Beteuerungen dann keiner abnimmt, vor allem die nicht, die es angeht. Die unverständliche Ausnahme, die ich unter allen Personen für mich darstelle, macht den Zusammenhang zwischen der bewußten und der sozialen Welt so schwer erklärbar. Die anderen sind sich ja ebenso eine Ausnahme, aber doch nicht so wie ich mir...
Die dritte Realität ist eine weniger unmittelbar erfahrbare, nämlich die materielle Welt. Sie ist nicht gegeben, sondern erschlossen, und somit haben sich die Vorstellungen darüber im Lauf der Zeit stark verändert. Während die erste Realität betreffende Sätze wie beispielsweise "... und dann fragte Theaitetes den Sokrates ... worauf Sokrates den Kallias für seine Einsicht lobte ..." u. dgl. auch heute noch ohne weiteres verständlich und überzeugend sind, wirken die Naturvorstellungen der Alten doch oft sehr fremdartig. Trotzdem würde ich auch die physikalische Realität nicht bestreiten wollen, obwohl anzunehmen ist, daß die meisten unserer Theorien darüber falsch sind. (Oder passen die Grundtheorien etwa inzwischen zusammen? )
Viel Aufwand wird getrieben, um die bewußte Realität aus der materiellen abzuleiten, schon seit Jahrhunderten, und heute immer noch mit Hirnforschung und was weiß ich was. Auch das Umgekehrte wurde öfter schon ebenso erfolglos versucht. Ich nehme an, es geht weder in der einen noch in der anderen Richtung. Eine physikalische Erklärung der Wort->Sache-Beziehung steht wohl auch noch aus, ich weiß gar nicht, ob sich das überhaupt schon jemand vorgenommen hat, während die Versuche, alle Wirklichkeit als sprachlich-sozial zu deuten trotz ihrer Beliebtheit bei Studiosi und Zeit-Autoren mit ihren "kulturellen Prägungen" u.dgl. wohl auch nicht gelungen sind und vermutlich nicht gelingen werden.
Drei Realitäten, die kein systematisches Ganzes bilden. Vielleicht gibt's sogar noch eine vierte Wirklichkeit, die transzendente. Dafür spricht vor allem der Gedanke, wenn es schon drei sind, warum nicht auch vier? (Meinte Spinoza nicht, wir lebten sogar in unendlich vielen Realitäten zugleich?) Mir erscheint das plausibel. Andererseits ist der Zugang zur Transzendenz (per mystischer Erfahrung, göttlicher Offenbarung oder buddhistischer Erleuchtung) noch viel seltener und unverlässlicher als es selbst unsere unzulänglichen naturwissenschaftlichen Theorien sind. Demzufolge spielt das Wunschdenken, wie etwa die Hoffnung, die Sehnsucht nach Sinn oder die Befreiung von der Pfaffenherrschaft usw. bei der Bejahung oder Bestreitung der Transzendenz eine entscheidende Rolle. "Glaube ist Hoffnung" behauptet so der Hl. Vater (in "Spe salvi").
Das wäre dann natürlich wieder so ähnlich wie in der zwischenmenschlichen Realität. In der bewußten Realität hingegen gibt es weder Wunschdenken noch Mutmaßungen: "Wenn ich Wärme fühle, mag ich mich täuschen, und es ist gar nicht wirklich warm, weil ich ja womöglich nur träume, aber daß ich empfinde, als sei es warm, ist untrüglich wahr" usw. Descartes. Bei der materiellen Welt hingegen brauchen wir zwar Mutmaßungen, sind aber nicht grundsätzlich aufs Hoffen angewiesen, wenn auch in der Praxis sehr häufig.
Die Wirklichkeit ist also sowohl strukturell als auch epistemisch fragmentiert. Wir tanzen sozusagen auf drei Hochzeiten gleichzeitig und das ist immerhin aufregender als nur auf einer zu sein. Ein bißchen seltsam ist freilich auch.
Gruß, Kallias
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