Lieber Libero,
ich will und kann Ihnen gar nicht widersprechen. Ich sehe das, was Sie schreiben, eher als Ergänzung dessen an, was ich zu beschreiben versuche, denn als Kritik daran. Als Ergänzung in dem Sinn, daß Sie auf Probleme bei der Realisierung dessen aufmerksam machen, was die Wissenschaft anstrebt; was also Wissenschaftler sich zum Ziel setzen.
Eine Analogie: Wenn man zwei Gleichungen mit zwei Unbekannten lösen soll, dann gibt es Regeln, nach denen man vorgehen muß, um zur richtigen Lösung zu kommen. Aber die Schüler der Untersekunda, die das lernen und anwenden sollen, machen regelmäßig Fehler. Nicht meist, aber doch oft.
Das ist die Realität. An den Methoden, mit denen man solche Gleichungen löst, an deren Richtigkeit ändert das nichts.
Zitat von Libero
Zitat von zettel Er publiziert seine Daten und seine Interpretation dieser Daten in der Absicht, zu einer gemeinsamen Erkenntnis der Welt beizutragen. Nicht, um seine persönliche Weltsicht zu propagieren.
das gilt nur dann, wenn die Wissenschaft ihre alltägliche unaufgeregte niemanden überraschende Entwicklung nimmt. Kommt sie an einen Scheideweg oder steht sie vor einem Paradigmenwechsel, zieht also ein wissenschaftlicher Hurrican auf, werden Sie immer feststellen, daß keiner auch wirklich keiner der Beteiligten frei von der persönlichen Weltsicht argumentiert.
Ja und nein. Sie haben vollkommen recht - die persönliche Weltsicht geht ein in die Position, die jemand wissenschaftlich vertritt. In den Biowissenschaften ist ein klassisches Beispiel, das ich immer einmal wieder verwende, die Nature-vs-Nurture- Diskussion. Sie finden unter denen, die den Anteil der Vererbung betonen, mehr Konservative und bei den Environmentalisten mehr Linke.
Aber wenn es um eine konkrete wissenschaftliche Frage geht - sagen wir, ob bei bei Singvögeln der Gesangt angeboren oder erlernt ist -, dann wird keiner der Beteiligten mit seiner Weltanschauung argumentieren. Keine halbwegs ordentliche Zeitschrift würde einen Aufsatz publizieren, in dem jemand schreibt: "Aufgrund meiner Weltanschauung neige ich mehr dieser und jener Meingung zu".
Sondern die Auseinanderesetzung, der "Diskurs", findet anhand von Daten statt; und Theorien werden danach bewertet, wie gut und sparsam sie die Daten abdecken und wie schlüssig sie sind.
Oft ergibt sich, daß keine der beiden weltanschaulich begründeten Positionen zutrifft. Je mehr die Forschung fortschreitet, umso mehr verlieren sie an Bedeutung. Beim Vogelgesang ist es je nach Spezies mal so, mal so, und oft beides. Bei der menschlichen Intelligenz gibt es erbliche und Umwelt- Komponenten.
Zitat von Libero Das habe ich selbst bei eigentlich ideologiefreien Sachentscheidungen (gott würfelt nicht) in der Technik miterlebt. Mit politischen Denken hat das nicht unbedingt etwas zu tun, mit der persönlichen Weltsicht, auch mit Vorlieben und vor allem mit Erinnerungen schon.
Sie schreiben zu Recht, daß es an gewissen Stellen des Wissenschaftsprozesses (Paradigmenwechsel) Phasen gibt, in denen die persönliche Weltsicht besonders zum Tragen kommt. Das liegt eben daran, daß dann die empirische Basis schwach ist. Je mehr man Daten sammelt, umso mehr determinieren wieder diese und nicht die weltanschaulichen Positionen das, was an Theorien vertreten wird.
Anders gesagt: Der gute Wissenschaftler hat persönliche Vorlieben und ist sich ihrer auch bewußt; aber er wird sie immer zugunsten von Daten in den Hintergrund stellen.
Zitat von Libero Das bedeutet natürlich nicht, daß ich das postmoderne Denken teile. Das bedeutet nur, daß ich die Sicht auf den wissenschaftlichen arbeitenden Menschen Ihrer Artikelserie doch sehr idealistiert finde. Sie beschreiben Engel und vergessen, daß es nur irrtumsbehaftete Menschen sind. (Wobei auch der Irrtum manchmal zu Fortschritt führen kann)
Sie haben vollkommen Recht. Ich beschreibe, um im Beispiel zu bleiben, wie man Gleichungen mit zwei Unbekannten löst, nicht die oft fehlerhaften Bemühunen von Schülern, das zu tun.
Zitat von Libero Dieser Beschreibung, eigentlich ist es mehr ein Anspruch "So solltest es sein", genügen die wenigsten Wissenschaftler, die ich kenne. Mehr Innehalten und gewissenhaftestes Überprüfen "bin ich so, wie ich glaube und als Wissenschaftler eigentlich sein müßte" ist angebracht.
Das ist von Fall zu Fall, wohl auch von Fach zu Fach, verschieden. Übrigens gibt es auch verschiedene Wissenschaftskulturen. Das freie, datenorientierte, sachliche Diskutieren habe ich eigentlich erst gelernt, als ich in die internationale Wissenschaft sozusagen eingetaucht bin. Damals - in den späten sechziger, den siebziger Jahren - wurde auch in den Naturwissenschaften in Deutschland oft noch verkrampft, an der jeweiligen "Schule" orientiert, manchmal fast dogmatisch diskutiert.
Zitat von Libero Dann könnte man sich auch dieses krasse Schwarz Weiss Denken Aufklärung 100 % postmodernes Denken 0 % ersparen. Postmodernes Denken ist nicht die Wahrheit, aber Aufklärung und Aufklärer sind auch nicht die Künder der alleinselig machenden Wahrheit.[/quore] Das ist jetzt eine Äußerung postmodernen Denkens, liebe Libero. 
Es stimmt ja, daß man oft nicht weiß, wer recht hat. Meist, siehe oben, keiner, sondern jeder hat a bisserl recht. Aber man muß aufpassen, daß dies zu konstatieren nicht bedeutet, daß man auf die Auseinandersetzung verzichtet.
Toleranz bedeutet aus meiner Sicht nicht eine Wischiwaschi-Position, die besagt: Du hast deine Wahrheit, und ich habe auch recht. Sondern sie bedeutet die gemeinsame Suche nach der Wahrheit, zu der ja vielleicht beide mit ihren Ausgangspositionen beitragen.
Zitat von Libero Wir alle sind Kinder unserer Jugendzeit. Das beflügelt uns und hemmt uns zugleich. Selten erlebe ich einen Menschen, der nicht nur plakativ und Moden folgend mit der Zeit geht.
Dem stimme ich zu, und ich kann es an mir selbst sehen. Was die wissenschaftliche Position angeht, waren meine prägenden Erlebnisse als Jugendlicher die Lektüre von Kant, der Neukantianer und der Philosophen des Wiener Kreises, vor allem von Rudolf Carnap und Moritz Schlick. Dazu Bertrand Russel und Wittgenstein.
Die Grundauffassungen, die sich bei mir damals gebildet haben, vertrete ich noch heute, auch wenn vieles bei diesen Autoren heute natürlich differenzierter sehen kann.
Herzlich, Zettel
|