Man darf nie vergessen, daß die Leute früher zwar sehr ähnlich aber nicht ganz genau so gedacht haben, wie wir heute. Der Einfluß von Ideologie und Selbstbetrug ist schwer einzuschätzen. Für alle galt: "Der Krieg ist die Mutter aller Dinge." Kriege galten als notwendige Schmiede der Nationen, als Tonikum der Gesellschaft und des Patriotismus.
Der Zar hatte so ein Quecksilbersüdchen besonders nötig. Die Rolle von Mütterchen Rußland als Schutzpatron der slawischen Völker wird heute noch unterschätzt. Das ist eine ernstzunehmende ideologische Komponente russischer Sicherheitsüberlegungen bis heute. Man darf eines nicht vergessen: Zar heißt Cäsar! Es ist der oströmische Anspruch auf die Nachfolge des antiken Imperators von Rom. Und die Zaren wollten seit Peter dem Großen europäische Großmachtpolitik betreiben.
Deutschland und Frankreich waren Erzfeinde. Deutschland hatte zwar keine rationalen Kriegsziele, aber Frankreich endlich richtig fertig zu machen, nachdem man sich bei der Niederringung Napoleons stark gebremst hatte, dürfte vielen einflußreichen Leuten ein Selbstzweck gewesen sein. Die englische Vorherrschaft zur See dürfte ebenfalls vielen Leuten ein Dorn im Auge gewesen sein. Wir schätzen heute nicht immer richtig ein, welchen enormen Stellenrang damals nationales Prestige hatte. Völkisches Denken war international gang und gebe. Angehörige eines als schwach wahrgenommenen Volkes hatten im Umgang mit Angehörigen eines "starken" Volkes keine Chance. Für die aufstrebenden Deutschen und ihren großmäuligen Kaiser war das eine Hürde, die man unbedingt überspringen mußte. Notfalls mit Krieg.
Für Frankreich waren Deutschland und Österreich-Ungarn eine tödliche Bedrohung und eine ständige nationale Schande.
England wollte einen zersplitterten und in Konflikten paralysierten Kontinent. Daß sich Deutschland vom Konsumenten zum Lieferanten und Konkurrenten entwickelt hatte, war auch nicht so toll. Abgesehen von den säbelrasselnden Sprüchen des deutschen Kaisers, der bei seinen Absichtserklärungen auf seine hochgelobten Verwandtschaftsverhältnisse nicht so viel zu halten schien.
Und letztlich war auf dem Wiener Kongreß eine fragile und unklare Machtlage entstanden. In diesem sehr unsicheren und heiklen Umfeld war mit dem deutschen Kaiserreich etwas entstanden, was so gar nicht reinpaßte und damit alles noch viel komplizierter machte. Die Franzosen wollten wieder die Vorherrschaft, Deutschland wollte irgendwas unklares, das aber mit aller Gewalt, Wien wollte ein am Nationalismus zerbröselndes Reich mit Krieg zusammenhalten, der Zar wollte in Europa stärkeren Einfluß, die Oberherrschaft über die Slawen und sein eigenes Reich kriegerisch zusammenhalten, England überschätzte seine diplomatischen Ränkespiele. Diese unklare Lage wollte eigentlich niemand auf Dauer erdulden. Der Krieg sollte das möglichst ein für alle mal lösen und klare Machtverhältnisse schaffen. The war to end all wars.
Und keiner hat auch nur ansatzweise die damals verfügbare Technik mit ihren strategischen und taktischen Konsequenzen verstanden. Der Weltkrieg ist entstanden, weil alle in der Tradition begrenzter feudaler Bewegungskriege mit ihren rasch wechselnden Zweckbündnissen und Tributverträgen an einen schnellen und entscheidenden Krieg glaubten, während Interessenlage, Ideologie und Technik aber die Defensive stark bevorteilten und nationale Feindbilder und Sturheit weit über jede noch so geringe politische Flexibilität stellten. Letzteres eine logische Konsequenz aus den nationalen Volksheeren. Söldner kämpfen und schlafen fürs Geld. Patriotische Soldaten brauchen sture, einfache Verläßlichkeit bei den politischen Kriegszielen. Klug und fleißig - Illusion Dumm und faul - das eher schon Klug und faul - der meisten Laster Dumm und fleißig - ein Desaster
The Outside of the Asylum
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