Lieber Lemmy Caution,
sehr weit sind wir, glaube ich, in der Einschätzung von Castro und von Chávez gar nicht voneinander entfernt; wobei ich, wie schon gesagt, überzeugt bin, daß Sie die Situation in beiden Ländern besser beurteilen können als ich.
Fidel Castro ist wohl schon aus Überzeugung zum Kommunisten geworden; Raúl war es ja von Anfang an. Jedenfalls haben die beiden in Cuba ein lupenreines kommunistisches System errichtet. Und wie schon erwähnt war Castro jahrzehntelang selbst der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Cubas.
Das Verhältnis von Chávez zu Castro? Ich habe mir mein Bild aus CubaVision gemacht, das ich eine Zeitlang täglich stundenlang im Hintergrund laufen hatte. Es gab einen Besuch von Chávez in Cuba nach dem anderen, und bei einem - ich habe damals darüber berichtet - reiste Chávez so durchs Land, als sei er bereits dessen Präsident. Fabriken besuchend, mit den Arbeitern plaudernd, auch schon mal singend und tanzend, wie man ihn eben kennt. Auf gemeinsamen Veranstaltungen mit Raúl führte meist Chávez das große Wort. CubaVision rückte eindeutig ihn und nicht Raúl in den Mittelpunkt.
Es gab mehrere Sendungen, in denen Chávez zu Besuch bei Fidel gezeigt wurde. Sicher, er himmelt ihn an und hat zu ihm ein Sohn-Vater-Verhältnis. Aber es gab auch jedes Mal Diskussionen über die Zukunft Lateinamerikas, in denen beide völlige Übereinstimmung zeigten, daß diese sozialistisch sein werde. Ich sehe da keinen Unterschied und bin überzeugt, daß Chávez eine Diktatur wie in Cuba anstrebt.
Nur hat er eben eine Strategie der Machtergreifung, die bisher noch keine kommunistische Partei versucht hat: die Salamitaktik.
Zitat von Lemmy Caution Venezuela hat zu keiner Zeit auch nur Anstrengungen unternommen, das kubanische System der Landwirtschaft (sehr übel) oder der Schule (sehr indoktrinierend aber insbesondere im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich effektiv) zu übernehmen.
Das sind, denke ich, spätere Salami-Scheiben.
Übrigen ist diese Strategie der Machtergreifung zwar noch nie von Kommunisten angewandt worden, aber sie war the talk of the town bei den deutschen Stamokaps der siebziger Jahre. Man nannte das "systemüberwindende Reformen". Schrittweise sollten Kapitalismus und Demokratie abgewürgt werden, bis man nur noch einen kleinen letzten Schritt würde gehen müssen, um den Sozialismus auch formal einzuführen. Mag sein, daß da Dieterich direkt als Transmissionsriemen gewirkt hat; vielleicht waren es auch andere von den vielen europäischen Kommunisten, die geradezu darauf fiebern, in Venezuela den nächsten Anlauf für den Übergang zum Sozialismus zu realisieren.
Zitat von Lemmy Caution Chávez redet von Entwicklung der Gesellschaft und der Zerstörung der burguesía, der pitiyankis. Dieterich hält sich nicht mehr in Venezuela auf. Es gab Streit, wie Sie ja anderer Stelle geschrieben haben.
Dieterich hat Fehlentwicklungen - Korruption, schlechte Verwaltung usw. - gnadenlos kritisiert. Einen ideologischen Streit sehe ich aber nicht. - Chávez redet viel. Ob er selbst überhaupt ein klares Konzept vom Socialismo del 21 siglio hat, weiß ich nicht. Jedenfalls hat er dieses Konzept von Dieterich übernommen. Es beinhaltet eindeutig die kommunistische Diktatur als Endziel und die jetzige Democracia Revolucionaria als Zwischenetappe.
Herzlich, Zettel
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