Lieber Zettel,
Grundsätzlich hab ich den Eindruck, dass sie dies alles in den Dimensionen einer Art Domino Theorie denken. Überspitzt formuliert hat sich Kuba vor 50 Jahren die Kommunismus-Grippe eingefangen und diese hat sich nun auf Venezuela übertragen. Diese Sichtweise neigt dazu, Lateinamerika und seine Politiker nicht als Subjekte sondern als unmündige Kinder zu sehen, die von bösen auswärtigen Theorien infiziert sind. Ich betone die Eigenverantwortung der Gesellschaften und Politiker. Dafür existiert schlichtweg keine Alternative. Chávez ist nicht verständlich ohne die eben nicht nachhaltige Entwicklung Venezuelas in den 490 Jahren davor. Und dabei insbesondere die geplatzten Hoffnungen der disfunktionalen Demokratie seit 1958 für weite Bevölkerungsgruppen. Kann jetzt keine Daten finden, aber afaik besaß Venezuela 1958 eine Bevölkerung von deutlich unter 10 Mio. Heute 27 Mio. Im gleichen Zeitraum ist etwa die Bevölkerung Chiles oder Argentiniens kaum angestiegen. In Venezuela wurde der Anteil der Hoffnungslosen einfach zu groß. Die Konsequenz ist, dass zu viele Menschen ihre Hoffnungen, in diese katastrophale Regierung setzen. Chávez ist für die Region auch ein heilsamer Warnschuß, mehr Mittel in die Aufstiegsmöglichkeiten der Marginalisierten zu lenken (öffentliches Schulwesen, bezahlbare akzeptable Wohnverhältnisse). Chile befindet sich in beiden Bereichen auf einem guten Weg von zu bescheidenen Ausgangssituationen. Rafael Correa hat in Ecuador offenbar zumindest im Schulwesen einige glaubwürdige Anstrengungen unternommen. Chávez feiert Alphabetisierungskampagnen in einem Land, das bereits zu über 90% alphabetisiert war. Ich hab Email-Verkehr mit einem nun 6-jährigen Chilenen aus der unteren Mittelschicht, der nie eine Schule besucht hat. Die Oma hat Seba lesen und schreiben beigebracht. Chávez Initiativen in der Schulpolitik gingen in die Richtung einer Forderung nach einem "niedrigeren Abstraktionsgrad". Das ganze bei traditionell katastrophalen Ergebnissen venezoelanischer Schüler in internationalen Vergleichstests im Vergleich mit anderen lateinamerikanischen Gesellschaften, deren Ergebnisse ihrerseits schwach sind. Und einen regional-patriotischeren Geschichtsuntericht mit einer Überhöhung der "Gedanken" von Ernesto Ché Guevaras sowie der Strauchdiebe Venezuelas des 19. Jhdts. Damit hat er sich aber nicht durchgesetzt.
Ich habe das Buch von Reid gestern erhalten und bereits die ersten 80 Seiten gelesen (nebenbei gehe ich auch noch einer Beschäftigung nach). Halte es für ausgezeichnet und großartig.
Ein Aufstand der Armee dürfte sehr unwahrscheinlich sein. Gott sei Dank sind heute in Lateinamerika Militärputsche wie in den 70ern in Chile, Argentinien und Uruguay schwerer vorstellbar. Der Putsch von 2002 ist knapp gescheitert. Auch dazu gibt es ein Buch, das ich allerdings noch nicht gelesen habe. Eine Wiederholung eines solchen Putsches halte ich für unwahrscheinlich. Lateinamerikanische Streitkräfte als Arbeitsplatz ziehen alle möglichen Leute an. Ich glaube nicht, dass Chávez im Falle größerer Kundgebungen der Unzufriedenheit auf die Protestierer schießen lassen würde. Selbst wenn, glaube ich nicht, dass die Soldaten schießen würden. Auf der anderen Seite würde im Falle einer aus meiner Sicht möglichen Versorgungskrise die Armee nicht unbedingt loyal zu Chávez stehen. Nach all seinen großen Reden wär der Mann einfach nicht mehr glaubwürdig.
Ich halte die Effektivität von Geheimdiensten für grundsätzlich fragwürdig. In Venezuela existiert ja nach wie vor eine Opposition aus deutlich anti-chavistischen Zeitungen, Blogs, etc. In der Kritik an Chávez wird offenbar kein Blatt vor den Mund genommen, ausser der Arbeitsplatz hängt vom Staat ab. Natürlich steigt in Venezuela der Prozentsatz der Arbeitsplätze, die vom Staat abhängen. Denke auch nicht, dass Kuba einen so starken Einfluß auf Venezuela hat. Aus machistischer Perspektive ist eher Venezuela der Mann und Kuba die Frau. Venezuela hat das Geld. Venezuela hat viele Elemente des kubanischen Systems nie übernommen (Landwirtschaft nach wie vor privat organisiert). Chávez äußerte wiederholt Interesse an einem Nebeneinander von privaten und staatlichen Unternehmen. Natürlich entzieht insbesondere der überbewertete Wechselkurs sowie die generelle Störung der relativen Preise den privaten Unternehmen langsam aber sicher den Boden. Das ist aber nicht unbedingt ein Bestandteil der Vision von Hugo Chávez sondern eher eine unbeabsichtigte Folge seiner Politik. Hier ist er vergleichbar mit Allende-Chile. Leute, die damals als Klein (aber nicht Kleinst-) Unternehmer arbeiteten, haben mir erzählt, dass ihre Tätigkeit immer erwünscht war. Sie konnten halt unter den Spielregeln der damaligen Ökonomie einfach kein Geld mehr verdienen.
Die KP ist eine relativ kleine Partei. Chávez hat seine eigene Partei gegründet. Chávez hat sein eigenes Ideen-Gebäude. Dies hat natürlich Anknüpfungspunkte zum Kommunismus. Es ist nur nicht wirklich marxistisch. Warum können Lateinamerikaner eigentlich keine eigene wahnwitzige Theoriegebäude aufstellen? Sie benötigen dafür keine europäischen Ideen... So schwierig ist das nicht. Die venezoelanischen Kommunisten verhalten sich devot gegenüber dem großen Meister.
Kuba ist einfach zu schwach, um sich militärisch in Venezuela zu engagieren. Es ist richtig, dass in den Einnahmen Kubas die großzügigen Erdöllieferungen aus Venezuela für verschiedene Dienstleistungen kubanischer Staatsbürger in Venezuela (zumeist schlecht bezahlte Ärzte) den größten Teil ausmachen. Diese Einnahmen sind aber geringer als die Summe von Einnahmen aus dem Tourismus und den Überweisungen von Exilkubanern aus den USA. Kubas Spielraum, einer eigensinnigen Außenpolitik sind da wirklich sehr beschränkt.
In Chile haben die kubanischen Berater eine Menge Entrüstung geführt. Gefühlte 80% der mehr-oder-weniger Pinochetista, mit denen ich in verschiedenen Aufenthalten dort über die Ereignisse geredet hab, nannten kubanische Berater als zweites (hinter der Mangelwirtschaft mit Schlangestehen).
Ich halte die Wirtschaftspolitik für nicht nachhaltig. Irgendwann wird sich das auswirken. Ohne Öleinnahmen sind die relativen Preise einfach zu gestört als das ein Chaos vermieden werden könnte.
Gruß Lemmy
|