Ich habe mir, liebe Nola, diesen Artikel jetzt noch einmal genau angesehen.
Er ist geradezu ein Musterbeispiel geschickter Agitation. Der Trick ist uralt: Gegen das Opfer hat man nichts in der Hand. Also sammelt man alles Mögliche aus dem Umkreis und ordnet es so geschickt an, daß am Ende das Opfer in einem negativen Licht erscheint. Sehr beliebt ist das zB in der kommunistichen Agitation gegen Konservative, die dadurch in ein negatives Licht gestellt werden, daß man berichtet, sie seien mal auf einer Tagung gewesen, auf der auch ein Neonazi auftrat usw.
Die Autorin, Lena Sokoll, macht das so:
1. Zunächst wird die Neugier des Lesers auf Enthüllungen geweckt:
Zitat von World Socialist WebsiteDie Physikerin Merkel hatte sich nach dem Mauerfall 1989 erstmals einer politischen Partei, dem Demokratischer Aufbruch (DA), angeschlossen, wurde jedoch bereits vier Monate später Sprecherin der ostdeutschen CDU-Regierung unter Lothar de Maizière.
"... wurde jedoch". Da fragt man sich natürlich, ob das denn mit rechten Dingen zugegangen ist. Und erhält Aufklärung:
Zitat von World Socialist WebsiteWie ist dieser rasante politische Werdegang Merkels zu erklären? Was brachte Merkel mit, dass sie nach einem halben Jahr CDU-Mitgliedschaft bereits ein Ministeramt besetzte? Versuche von Biografen und Feuilletonisten, ihre Karriere auf Zufall, Glück oder Charaktereigenschaften wie Durchsetzungsvermögen und Machtinstinkt zurückzuführen, bleiben hohl, weil sie die politischen und sozialen Interessen und Rahmenbedingungen ignorieren, unter denen ihr Aufstieg stattfand.
So sind Kommunisten, liebe Nola. Daß jemand wie Angela Merkel einfach deshalb so schnell aufstieg, weil sie intelligent und tüchtig ist, weil sie aus der DDR kam und politisch nicht belastet war - das ist für sie eine "hohle" Erklärung. Sondern natürlich müssen da "Interessen" dahinterstecken. Wir sind als Leser nun gespannt, welche denn wohl. Als trotzkitische Leser freilich ahnen wir es schon: Die Kapitalisten und die Stalinisten, die beiden altbösen Feinde.
2. Und jetzt wird es infam:
Zitat von World Socialist WebsiteMerkel ist unmittelbar nach der Wende in der DDR keineswegs als unbeschriebenes Blatt ohne Beziehungen in die Politik gegangen. Durch ihren Vater verfügte sie über Zugang zu einflussreichen Kirchenkreisen, die enge Verbindungen zu den Spitzen der DDR-Regierung unterhielten und seit den fünfziger Jahren dazu beitrugen, politische Opposition gegen das stalinistische Regime unter Kontrolle zu halten. Während der Wende spielten diese Kirchenkreise eine zentrale Rolle dabei, die Protestwelle in Ostdeutschland in Bahnen zu lenken, die schließlich zur Restauration des Kapitalismus und zum Anschluss an die Bundesrepublik führten.
Zum einen wird eine typisch trotzkistische Verschwörungstheorie entwickelt: Diese "Kirchenkreise" haben erst den Stalinismus unterstützt und dann die "Restauration des Kapitalismus". Die beiden Mächte also, die für die tapferen Trotzkisten das Böse in der Welt repräsentieren.
Aber was hat Angela Merkel denn mit diesen "Kreisen" zu tun? In Wahrheit exakt nichts. Sie hat sich nicht in diesen Kirchenkreisen engagiert, sie hat sich an deren Arbeit nicht beteiligt. Wie also hängt man ihr die Beziehung zu ihnen an? "Durch ihren Vater verfügte sie über Zugang zu einflussreichen Kirchenkreisen ...".
So macht es der geschickte Agitator: Sie "verfügte über Zugang"; das kann man nicht bestreiten, da ja nun einmal ihr Vater in diesen Kreisen verkehrte; und als Kind wird sie vermutlich das Haus nicht fluchtartig verlassen haben, wenn solche Bekannte beim Vater hereinschauten. Beim Leser bleibt haften, daß Angela Merkel mit diesen Kreisen politischen Kontakt hatte, obwohl die Verfasserin das nicht explizit behauptet. Es stimmt ja auch nicht, aber sie suggeriert es geschickt.
3. Es folgt ein längerer Abschnitt, in dem Angela Merkel überhaupt nicht vorkommt, sondern ihr Vater, der "Weißenseer Kreis", der Pfarrer Eppelmann, "Kirche im Sozialismus" usw. Falls der Leser auf die Suggestion hereingefallen ist, glaubt er jetzt, er würde etwas über Angela Merkel und deren politische Einstellung erfahren.
Merkel hat sich aber offensichtlich um diese theologischen und politischen Aktivitäten ihres Vaters überhaupt nicht gekümmert. Sie hatte kein Interesse an Theologie und Politik, sondern hätte gern - das kann man den seriösen Biografien entnehmen - Sprachen studiert, entschied sich dann aber für Physik.
Was die Autorin Lena Sokoll veranstaltet, ist eine Art Sippenhaft: Weil Vater Kasner politisch-theologische Aktivitäten entfaltete, wird unterstellt, daß auch seine Tochter damit etwas zu tun hatte.
4. Aber irgendwas wird unsere Autorin von der World Socialist Website doch gefunden haben, das Angela Merkel mit den theologisch-politischen Aktivitäten ihres Vaters in Zusammenhang bringt. Ja, dieses:
Zitat von World Socialist WebsiteAufgewachsen in solchen Kreisen, verfügte Angela Kasner schon früh über Beziehungen, die sie zu ihrem Vorteil einsetzen konnte. So berichtet Wolfgang Stock in seiner autorisierten Merkel-Biografie, dass die Schulklasse der damaligen Abiturientin ihren unbeliebten Lehrer ärgern wollte, indem sie keinen Beitrag zum obligatorischen Kulturprogramm der Schule vorbereitete und schließlich eine improvisierte Vorstellung gab. Die Schüler sollten bestraft werden, doch eine Intervention der Kasners gab dem ganzen eine Wendung: "Eine Petition wird verfasst, die Angela persönlich zu Manfred Stolpe, dem obersten Kirchenjuristen der DDR, nach Berlin ins Stefanusstift bringt. [...] Dank der Kirchenschiene greift Berlin’ ein: Angelas Klassenlehrer wird gemaßregelt, [...] die Schüler bekommen nur’ einen Verweis beim Fahnenappell’."
Also, die Klasse von Angela Merkel hatte sich nicht regimetreu verhalten und sollte gemaßregelt werden. Und da nutzte Papa Kasner seine "Beziehungen" und verhinderte das. Typisch für eine Diktatur, in der Beziehungen bekanntlich alles sind; aber auch bei uns soll es vorkommen, daß ein Vater seine Beziehungen zugunsten seines Sprößlings spielen läßt.
Was sagt das über die politisch-theologische Haltung der Schülerin Angela Merkel? Natürlich nichts. Aber die Autorin hat ihr Ziel erreicht: Der Leser hat irgendwie den Eindruck, daß sie etwas mit den regimetreuen Theologen der "Kirche im Sozialismus" zu tun gehabt hatte.
Agitatorisches Ziel erreicht. Und so geht es weiter in dem Artikel. Wenn Sie mögen, lesen Sie selbst weiter und machen Sie sich klar, wie die Autorin Lena Sokoll es geschickt versteht, Angela Merkel in ein negatives Licht zu rücken, obwohl sie gegen sie nichts, aber wirklich nichts in der Hand hat.
Daß dabei Informationen, die nicht in die Agitation passen, weggelassen werden, versteht sich. Beispielsweise zitiert Sokoll zwar den "Stern", der wiederum einen Spitzelbericht über Merkel zitiert, worin es heißt, der Spitzel hätte "nichts politisch Brisantes" berichtet und Merkels "positive Grundeinstellung" betont. Sie erwähnt aber nicht, daß in ihrer Stasi-Opferakte Merkel sehr wohl der "politisch-ideologischen Diversion" bezichtigt, ihre kritische Haltung dem Staat gegenüber und ihre Zustimmung zur Solidarnosc in Polen vermerkt wurden.
Kurzum, liebe Nola: Es gibt in diesem Artikel nichts, das Angela Merkel belasten würde. Es ist alles nur heiße Luft, freilich geschickt in Agitations-Luftballons gefüllt.
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