Beim Vergleich mit den 90er Jahren kommt es mir vor, als seien diese eine Übergangsperiode gewesen, während das vergangene Jahrzehnt das erste eines neuen Zeitalters gewesen ist.
Die Zeit nach dem Mauerfall war vom Schutt des zusammengebrochenen Kommunismus geprägt: der Aufbau Ost, die Stasi-Debatte, die Osterweiterung der EU, die Bürgerkriege an den Rändern des früheren sowjetischen Reiches. Man war in Deutschland mit der Vergangenheit beschäftigt, konkret mit der Hinterlassenschaft des marxistischen Bankrotts und imaginär mit der Deutung des Dritten Reichs. Beides, die kommunistische Gegenwart und die nationalsozialistische Vergangenheit hat Westdeutschland seit dem Krieg kontinuierlich beschäftigt: Teilung, Kalter Krieg, Mauerbau, Entspannungspolitik, Honeckerkult, Mauerfall - NS-Prozesse, neulinke Faschismustheorie, Holocaust-Vierteiler, Weizsäckerrede, Historikerstreit, Knopp-Dokus, Walserdebatte. All das lief in den 90er-Jahren aus.
Seit zehn Jahren interessiert man sich weniger für die Vergangenheit, sondern weit mehr als je zuvor für die Gegenwart, für die Situation des Landes in der Welt von heute. (Was, nebenbei gesagt, als Nebenfolge den Wiederaufstieg der kommunistischen Partei sehr begünstigt hat.) Die Veränderungen der Weltwirtschaft erzwingen in Deutschland einen Strukturwandel, was man in den 90er-Jahren schon ahnte, worauf man aber noch nicht massiv reagieren musste. Daher beließ man es bei einer Debatte, jener "neoliberalen Reformdiskussion", die den Linken bis heute schwer im Magen liegt. Diese Diskussion ist beendet, die Linke hat die kulturelle Hegemonie wieder fest in Händen, dennoch folgten in diesem Jahrzehnt den Worten Taten. Hartz IV war ein ziemlich lauter Wecker, die meisten, die nicht per Gesetz lebenslang abgesichert sind, dürften inzwischen wach geworden sein. Am anderen Ende der Hierarchie hat sich ein weltläufiges Großbürgertum etabliert, das so selbstverständlich mit Milliarden jongliert, wie man früher mit Millionen gespielt hat.
Die schweigende Mehrheit hat sich souverän vom Einfluß der Medien abgekoppelt, was diesen bei der letzten Bundestagswahl aufgefallen sein muß; daher sind Veränderungen möglich. Die Sloterdijk-Debatte und Fleischhauers Bestseller sind vielleicht ein Vorgeschmack davon.
Der rabenschwarze Pessimismus der Jüngeren dürfte ebenfalls damit zu tun haben, daß sie sich die Probleme genauer ansehen und weniger für selbstverständlich nehmen als früher.
So scheint mir also das letzte Jahrzehnt ein Zeitalter des Umsichsehens gewesen zu sein: In was für einer Welt befinden wir uns heute? Und was folgt daraus für uns? Diese Fragen haben die früheren abgelöst: Wer sind wir? Und was müssen wir an Gutem tun, damit die anderen sich nicht fürchten?
So ist das Taggesicht der Nullerjahre: sehr wach, sehr illusionslos.
Das deutsche Nachtgesicht träumt den grünen Traum: schon in den 90er-Jahren wurde Norddeutschland mit Windrädchen zugebaut, schon damals tauchten die ersten Bioprodukte in den Supermärkten auf, doch erst in diesem Jahrzehnt kam der breite Durchbruch mit dem Atomausstieg, dem EEG, dem Klimaschutz. Nach den preiswerteren Nichtbio-Lebensmitteln muß man allmählich suchen.
Alles ebenso teuer wie komisch. Aber vielleicht ist es ja nicht einmal der verkehrteste Traum, da er ja mit der Wirklichkeit irgendwie verknüpft ist: in einer Welt, in der bald drei, vier Milliarden Menschen im Wohlstand leben, werden Umweltthemen eine immer größere Rolle spielen - und hoffentlich auch rational bearbeitet werden; womöglich sogar von uns Träumern.
Herzliche Grüße, Kallias
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