Lieber Martin,
ich habe den Text jetzt ein zweites Mal gelesen, um nach einem Zusammenhang zwischen dem Beichtgeheimnis und der Betrafung sexueller Übergriffe zu finden; aber ich habe ihn nicht gefunden - davon abgesehen, daß in dem Text drei Arten von Verstößen behandelt werden, nämlich 1. die Eucharistie betreffend, 2. die Beichte betreffend, und 3. Verstöße gegen das Sechste Gebot, also Sittlichkeitsverbrechen.
Ein Zusammenhang zwischen 2. und 3. wird nur insofern hergestellt, als ein Delikt genannt wird "das Verführen eines anderen zu einer Sünde gegen das sechste Gebot des Dekalogs bei der Spendung des Bußsakramentes oder bei Gelegenheit oder unter dem Vorwand der Beichte, wenn dies zur Sünde mit dem Beichtvater führt"; aber das ist, glaube ich, eine andere Frage als die von Ihnen zu Recht aufgeworfene.
Erlaubt der Text es, daß ein Priester, der von einem sexuellen Übergriff in der Beichte erfährt, dieses Wissen an andere Priester weitergibt, so daß ein kirchliches Verfahren gegen den Täter eingeleitet werden kann? In dem Text finde ich dazu nichts; aber vielleicht erlaubt das Kirchenrecht das, ich kenne mich da nicht aus.
Wenn es so wäre, dann würde allerdings ein Priester, der solche Verfehlungen beichtet, sich ziemlich ungeschickt verhalten.
Zitat von Martin So weit ich weiß, dürfen gebeichtete Informationen von Priester zu Priester weitergegeben werden, also auch an den Bischof und den Papst, die ja allesamt dem Beichtgeheimnis verpflichtet sind.
Ja, aber dürfen diese dieses Wissen nutzen, um gegen den Betreffenden mit einem Verfahren vorzugehen, wie es in dem Text geschildert wird?
Zitat von Martin In jedem Fall dokumentiert sich hier das große Spannungsfeld zwischen der 'non government organization' Kirche und den nationalen Regularien. Nebenbei: Die NGO Greenpeace hat sich meines Wissens in nationalen Zellen organisiert um auch Verfehlungen lokalisiert zu halten. Vielleicht sollte die katholische Kirche ein Beispiel daran nehmen.
Ich halte alle solche "innerbetrieblichen" Verfahren gegen Personen für problematisch, die gegen Strafgesetze verstoßen haben bzw. denen das vorgeworfen wird. Natürlich kann man zusätzlich zur regulären Strafverfolgung gegen den Betreffenden vorgehen, wie das z.B. bei Disziplinarverfahren gegenüber Beamten geschieht. Aber diese laufen ggf. parallel zur ordentlichen Strafverfolgung und ersetzen diese keineswegs.
Zitat von Martin Trotz allem zeigt das Beispiel der Odenwaldschule, dass auch ohne Beichtgeheimnis aus den Kreisen Betroffener nicht notwendigerweise Information an staatliche Stellen fließt. In diesem Zusammenhang hätte mich mal interessiert, ob 'Missbrauchsopfer' später ihre Kinder auch an diese Schule geschickt haben.
Jede Institution hat vermutlich die Neigung, Vieles "intern zu bereinigen", was eigentlich der Staatsanwaltschaft übergeben werden müßte. Daß geht bis zum Hoteldirektor, der einen Diebstahl durch Hotelpersonal lieber nicht anzeigt, weil er den Ruf des Hotels nicht gefährden will.
So war es offenbar auch in der Odenwaldschule; nur daß dort noch nicht einmal intern Sanktionen verhängt wurden. Aber auch dort hatte man Angst vor der Zerstörung des Rufs; berechtigte, wie sich jetzt zeigt. Ich glaube nicht, daß die Odenwaldschule ihren alten Ruf wieder herstellen kann.
Der Text von Tilman Jens, verquast wie er ist, läßt, wie mir scheint, durchblicken, daß er damals als Schüler die Vorgänge ganz in Ordnung fand. So mag es vielen gegangen sein. Man kann ja nicht generell davon ausgehen, daß es Jugendlichen, die schließlich in einem sexuell sehr aktiven Alter sind, unangehm sein muß, auch mit Älteren sexuelle Erfahrungen zu machen. Das ist ja auch immer wieder verarbeitet worden; von Julien Sorel und Mme Rênard bis zu Benjamin Braddock und Mr. Robinson.
Nur gibt es eben auch viele, die darunter leiden; und deshalb kann dergleichen nicht geduldet werden. Vor allem dann nicht, wenn es sich um Lehrer handelt, die ihre Machtposition ausnutzen, um eigene sexuelle Wünsche zu realisieren.
Herzlich, Zettel
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