Die Diskussion über sexuelle Übergriffe gegen Kinder und Jugendliche hat sich in den letzten Wochen in zwei Phasen abgespielt. Erst ging es nur um Fälle im Bereich der katholischen Kirche. Da kam die Odenwaldschule hinzu.
Aber es gab da einen seltsamen Unterschied:
In der ersten Phase wurde fast stets der institutionelle Hintergrund in den Blick genommen. Man diskutierte weniger über die Schuld der einzelnen Täter als über den Zölibat, über die Verantwortung katholischer Bischöfe bis hin zum heutigen Papst, über die katholische Sexualmoral.
Die Diskussion über die ähnlichen Vorfälle an der Odenwaldschule wurde hingegen bisher ganz überwiegend auf der individuellen Ebene geführt. Als der Bischof Mixa (noch bevor die Odenwaldschule ins Zentrum der Diskussion geriet) auf die sexuelle Revolution der siebziger Jahre und deren Moral hinwies, wurde er als Depp dargestellt ("persönlich überfordert").
Dabei liegt der Zusammenhang zwischen dem, was in der Zeit der Achtundsechziger propagiert wurde, und dem, was Gerold Becker und andere Lehrern getan haben, doch auf der Hand. Tilman Jens schildert in seinem Artikel, dem ich das Zitat des Tages entnommen habe - es lohnt sich für Nicht-Abonennten, deshalb morgen den "Spiegel" zu kaufen -, wie die Übergriffe, die jetzt (wieder) ans Licht gekommen sind, nur die Spitze eines Eisbergs waren.
Da hatte eine Lehrerin ein Verhältnis mit einem Schüler und turtelte mit ihm während des Unterrichts; die Note dieses Schülers durften die Mitschüler bestimmen, weil die Lehrerin sich für allzu befangen erklärte. Was man ja verstehen kann.
Da schlief die Frau eines Lehrers mit einem Schüler, und anschließend diskutierte man das mit dem Lehrer wochenlang selbstdritt aus. Da wurde Tilman Jens von seiner Freundin verlassen, weil diese es doch toller mit einem Lehrer fand. Da lebte ein homosexueller Lehrer in sexueller Gemeinschaft mit vier Schülern, die außer zum Unterricht kaum je seine Wohnung verließen.
Die Sexualmoral der katholischen Kirche wird zu Recht kritisch diskutiert. Wann beginnt die kritische Diskussion der Sexualmoral, unter der solche Zustände nicht nur möglich waren, sondern von der sie - anders als bei der katholischen Kirche - ausdrücklich bejaht wurden?
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