Zitat von Zettel Hm, lieber Stefanolix und lieber Calimero. Sie können das besser beurteilen als ich, aber vor mir liegt der Atlas zur Geschichte 1, VEB Hermann Haack, Gotha/Leipzig 1973. Ein sorgfältiger, detailreicher Geschichtsatlas, den ich oft benutzt habe. Aber eindeutig das marxistische Geschichtsbild vermittelnd: "Archäologische Kulturen der Urgesellschaft und Herausbildung der Klassengesellschaft" (S. 3); "Die politische Gliederung der griechischen Sklavenhaltergesellschaft um 432 v.u. Z." (S. 10); "Die feudale deutsche Ostexpansion" (S. 32) usw. bis "Der Kampf der deutschen Arbeiterklasse gegen die Sozialistengesetze (1878-1890)" (S. 104) und "Der Kampf der internationalen Abeiterklasse gegen den imperalistischen Krieg von 1914 bis 1917" (S. 126). Da endet mein erster Band; den zweiten, der mit der Oktoberrevolution beginnt, habe ich nicht. Und das ist ein Atlas, also das so ungefähr Objektivste, was es in der Geschichtsschreibung gibt.
Ich stelle voraus: Mein erster Geschichtsunterricht war in der 5. Klasse (also 1978) und mein letzter war 1986. Menschen aus anderen Jahrgängen können ganz andere Erfahrungen gemacht haben.
Wenn man sich die Überschriften einmal ausblendet: wie ist denn die Qualität der Karten? Es gab ja z.B. wirklich einen Kampf der (organisierten) Arbeiter gegen Bismarcks Sozialistengesetze. Ich vermute, dass die Schwerpunkte dieses Kampfes eingezeichnet sind, vielleicht auch die Verbreitung der Sozialdemokraten. Zu dieser Zeit gab es aber auch Sozialgesetze und uns wurde das prinzipiell nach der Formel »Zuckerbrot und Peitsche« vermittelt.
Ich weiß noch, dass sehr stark auf die Lebensverhältnisse der Arbeiter in der ersten industriellen Phase eingegangen wurde. Das wurde mit Literatur aus dieser Zeit verknüpft (Beschreibung des Elends der Weber usw.). Es gab im Geschichtsbuch durchaus auch zeitgenössische Karikaturen, Reproduktionen aus alten Zeitungen, Landkarten und Fotos von Museumsstücken. Sicher wurde das alles unter bestimmten Gesichtspunkten ausgewählt. Aber es war nun wirklich nicht jedes dritte Wort »Klassenkampf«. Es kamen in den Büchern auch ein paar Fakten vor ;-)
Zu den Sozialistengesetzen: Eigentlich ist es ja in einem Rechtsstaat normal, dass sich Arbeiter zur Wahrung ihrer Interessen zusammenschließen und dass sie ihre Interessen durch Gewerkschaften oder Parteien vertreten lassen. Einige Ziele der Arbeiter von damals waren aus heutiger Sicht völlig legitim. Einige Ziele Bismarcks waren aus heutiger Sicht verfassungswidrig. Aber man darf natürlich keine Kriterien rückwirkend anwenden. Diesen Fehler hat ja die DDR gemacht, als sie überall die Klassenkampfschablone angewendet hat.
Zitat von Zettel Wurde Ihnen denn wirklich nicht das Bild vermittelt, daß die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, daß sie die Epochen Urgesellschaft - antike Sklavenhaltergesellschaft - Feudalismus - bürgerliche Gesellschaft - Sozialismus - Kommunismus umfaßt, der letztere in der Zukunft, aber so gewißlich kommend, wie es die anderen Epochen gab?
Ja, aber das war durchschaubar. Das wirkte so unnatürlich wie die Überschriften aus diesem Atlas. Man hatte doch als Schüler ein feines Gespür dafür, ob der Lehrer gerade den Formalitäten gerecht wird oder ob er wirklich etwas über Geschichte erzählt.
Zitat von Zettel War es in diesem Unterricht nicht so, daß - wie auch in diesem Atlas - der "Entwicklung der Produktivkräfte" breiter Raum eingeräumt wurde und die Geschichte als ein Ausdruck dieser Entwicklung der Produktivkräfte dargestellt wurde, die je nach ihrem Stand zur einen oder anderen Klassengesellschaft führten? Und so fort; man könnte da viel aufzählen - die einseitige Darstellung der innenpolitischen Auseinandersetzungen in der Antike, die Bauernkriege, die Kolonialreiche der Neuzeit usw. Wurden andere Aspekte der Geschichte - religiöse und nationale Auseinandersetzungen, Ideengeschichte, die Rolle der großen Persönlichkeiten beispielsweise - ebenso ausführlich dargestellt?
Zur Religion: Einige zentrale Themen der Geschichte wie die Reformation wurden ausführlich behandelt (1983 war der 500. Geburtstag Martin Luthers). Die Urchristen kamen dagegen fast nicht im Unterricht vor. Um darüber etwas zu lernen, hatte ich aber (privat organisierten) Religionsunterricht. Das wurde in der DDR nicht besonders gern gesehen, aber in den 80ern auch nicht (mehr) unterbunden.
Die Rollen großer Persönlichkeiten wurde vermutlich zurückhaltender abgehandelt als im Westen. Aber es gab auch in der DDR Biographien und andere Bücher über Persönlichkeiten der Geschichte. Man konnte sich sein Wissen schon zusammentragen.
Zitat von Zettel Also, lieber Calimero und lieber Stefanolix, ich habe Schwierigkeiten, zu glauben, daß Ihnen nicht dieses einseitige, ideologische Gechichtsbild vermittelt wurde. Irre ich mich?
Eine pauschale Aussage mag ich nicht wagen. Als grundsätzlich DDR-kritischer Mensch und »1989er« werde ich bestimmt nichts beschönigen. Subjektiv gesehen mag ich im Fach Geschichte Glück gehabt haben, vielleicht kamen auch die richtigen Bücher und Kontakte dazu. Mein Geschichtsbild ist jedenfalls nicht von der Ideologie der DDR geprägt worden.
|