Das Beispiel Tempo 30 und der Artikel von M. Duhr sind wirklich in vieler Hinsicht äußerst lehrreich, wenn man den Politikansatz der Grünen verstehen will. Es geht eben nicht bloß um die Lösung real existierender Umweltprobleme. Es geht nicht einmal nur um Primat der Ökologie. Es geht um Hegemonie der eigenen Gruppe, die Veränderung von Gesellschaftsstrukturen und Machtverhältnissen. Die selbst ernannten Guten aus dem Kiez wollen endlich ungehemmt diktieren, wie andere zu leben haben.
Schon der Einstieg des Duhr-Artikels setzt den Ton: Armer Radfahrer im hippen Teil Berlins (einer von uns!) wird von Auto (Mercedes! Bonzenkarre!) fast überfahren; das Opfer-Täter-Schema ist sofort klar. Hier muss etwas geschehen!
Selbstverständlich kann und will niemand in einer solchen Szene den Raser verteidigen. Zur Berliner Verkehrsrealität gehören allerdings auch noch viele andere hässliche Phänomene, die im Artikel erst gar nicht vorkommen. Z.B. halsbrecherische Temporadler, die im Bewusstsein ihrer moralischen Überlegenheit nahezu im Blindflug über Kreuzungen und Bürgersteige brettern; oder notorische Autoraser, die mit einer bis zum Anschlag aufgedrehten Musikanlage auf sich aufmerksam machen und sich nur sporadisch an irgendwelche Tempolimits halten. Hier muss natürlich aus grüner Sicht gelten: Das Problem ist der BMW - keinesfalls der benachteiligte junge Mann hinterm Steuer.
Geradezu brilliant ist der Ausstieg des Artikels:
Zitat Wie viel Tempo 30 wirklich bringt, hängt bei allem Für und Wider letztlich an den Autofahrern: Sie müssen Tempo 30 auch akzeptieren. Oder mithilfe von Radarfallen dazu gezwungen werden.
Diese Formel könnten die Grünen auch auf ein Blankoformular drucken lassen, das dann universell verwendbar wäre:
Zitat "Wie viel ......... wirklich bringt, hängt bei allem Für und Wider letztlich an den Bürgern. Sie müssen ........ auch akzeptieren. Oder mithilfe von ....strafen dazu gezwungen werden.
Denn merke: Grüne Regulierungen machen alles besser. Falls das nicht so ist, liegt das letztlich nur an der Borniertheit der Leute. Wir sind total liberal und setzen immer auf Freiwilligkeit. Nur bei denen, die nicht freiwillig mitmachen, setzen wir ausnahmsweise auf sehr schmerzhaften Zwang.
Welch gewaltiger Gestaltungsanspruch hinter dem scheinbar bloß ein bisschen übervorsichtigen Tempo 30 steckt, zeigt dieses Interview mit dem einflussreichen Wiener Verkehrsplaner Hermann Knoflacher ("Man wird die Wirtschaft umorganisieren müssen"). Geführt wurde es bezeichnenderweise in einer Sendung namens "Ökotopia".
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1079408/
Zitat Auszug: Ich habe 1975 das Verkehrskonzept für Wien gemacht, und das hat 27 Jahre gedauert, dass es so stark durchschlägt, dass seit 2002 der Autobesitz in Wien abnimmt. Das heißt, die Wiener haben festgestellt, sie brauchen gar nicht mehr so viele Autos.
Frage: Das heißt, damals hat man gesagt, Sie sind ein Spinner, und später hat man erkannt, das geht doch?
Knoflacher: Ja, ich habe natürlich die Stadtverwaltung mit meinen Studenten sozusagen immer versorgt, das heißt, es gibt sachkundige Leute, die mit Systemen umgehen können und die wissen, wo man zugreift.
Das ist die "kulturelle Auseinandersetzung", die Pirx hier im Forum bereits zitiert hat. Knoflacher will die angeblich entfremdenden, das Patriarchat stützenden Großstrukturen unserer Zeit langsam erdrosseln, indem er schnelle Mobilität konsequent ausbremst. Das führe uns dann zurück in eine dörflichere, "menschlichere" Lebensweise.
Dieses dörfliche Utopia ist die romantische Vision, mit der die Grünen heute so erfolgreich sind: Ein kleines sanftes Paradies, ohne Schnellbahnhöfe oder Großkraftwerke, fernab vom Krach der bösen großen Welt, ein Idyll der Radfahrer und der Solarpanel.
Kritik an den Grünen muss deutlich machen, dass diese Utopie im Alltag nichts anderes ist, als ein reaktionäres Verarmungs- und Entmündigungsprogramm.
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