Lieber Zettel,
auf Ihren längeren Beitrag möchte ich noch einmal eingehen. Vielleicht wird es etwas thesenhaft; wenigstens numeriere ich die Aspekte durch, die mir relevant erscheinen.
1. Ich bin überzeugt, dass man (Hoch-)Kulturen beurteilen und bewerten und durchaus miteinander vergleichen kann, und zwar in doppelter Hinsicht: a) in Hinblick auf die Entfaltung der jeweiligen Kultur, ihre Ausdifferenziertheit, ihre Leistungen auf verschiedenen Gebieten, aber jeweils synchron, in ihrer Zeit; b) in Hinblick auf ihren Beitrag für unsere heutige Welt und Kultur.
2. Zur Trennung von Religion und Kultur. Sie schreiben:
Zitat Erstens ist zu unterscheiden zwischen dem Islam als Religion und der Kultur der islamischen Länder. Auf die analoge Unterscheidung zwischen dem Christentum und der Kultur des Abendlands bin ich im zweiten Teil des Kommentars zum Thesenpapier der fünf FDP-Politiker eingegangen.
Diese Trennung ist für die Gegenwart und den Westen sicher angemessen; wir haben eine westliche Kultur, die aber getrennt ist von der Religion und Religiosität. Inwieweit man für den Orient heute zwischen Religion und Kultur trennen kann, sei dahingestellt. Für den Westen gilt die Trennung von Christentum und Kultur für die Zeit zwischen Völkerwanderung oder Karolingerzeit bis zur Französischen Revolution NICHT. Die europäische Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bis 1789 ist eine christliche Kultur, getrennt vom und ohne das Christentum nicht denkbar. M.E. gilt dies entsprechend auch für die muslimisch-arabische bzw. muslimisch-türkische Welt entsprechend.
Daher:
Zitat Kultur und Religion fallen im Fall des Islam/des Orients so wenig zusammen, wie die Kultur des Abendlands mit dem Christentum identisch ist.
In historischer Perspektive sind die Kultur des Abendlands und das Christentum bis 1789 identisch; die Elemente etwa aus der griechischen Antike sind christlich überformt, sind ins christliche Mittelalter integriert und auch nur in der Form der christlichen Rezeption und Aneignung denkbar.
3: Das christliche Abendland - das muslimische Morgenland: Wenn ich als Historiker vom christlichen Mittelalter spreche und die Aspekte betone, die die Einheit des christlichen Mittelalters ausmache, blende ich natürlich die existierenden Unterschiede zwischen Spanien und Dänemark oder Sizilien und Polen aus, ebenso die natürlich auch existierenden Christen in Ägypten, in Amerika oder China oder wo auch immer. Trotzdem stellt sich das christliche MIttelalter als eine christliche Kultur dar. Dementsprechend repliziere ich:
Zitat Die Kultur des Orients ist reicher als die des Islam, und der Islam existiert andererseits ja auch außerhalb des Orients - in Indonesien zum Beispiel, in Bangla Desh, in Zentralasien. Die großen Teilkulturen der Kultur des Orients, eng miteinander verzahnt, sind die persische, die arabische und die türkische.
Wenn wir im historischen Vergleich bleiben, können wir uns m.E. einstweilen beschränken auf das christliche Mittelalter und den muslimischen Orient unter Ausschluss etwa der Muslime in Afrika oder Indonesien (wobei die Islamisierung dort m.W. ohnehin jüngeren Datums ist.
4. Die Kulturen auf Grundlage anderer Kulturen:
Zitat Diese Kultur des Orients steht, wie die meisten Kulturen, auf den Schultern anderer Kulturen (Arnold Toynbee hat das ausführlich analysiert); hier einerseits der alten Kulturen des Raums, also vor allem der jüdischen, der ägyptischen, der assyrischen, der altpersischen. Andererseits entstand sie aber auch ganz wesentlich - was nach meinem Eindruck oft zu wenig gewürdigt wird - auf den Boden von Byzanz; insofern ist sie, neben der abendländischen, die Nachfolgekultur der griechisch-römischen Antike.
Ich sehe einen gravierenden Unterschied: Das Christentum ist eine Nachfolgekultur der griechisch-römischen Antike, es ist im griechisch-römisch-jüdischen Kulturraum entstanden, aus ihm herausgewachsen, hat Elemente davon bewahrt oder umgestaltet und schließlich mit dem europäischen Mittelalter eine eigenständige christliche Kultur gebildet. Entsprechend ist auf der Grundlage zunächst arabischer Kulturen und in unklarem Bezug zum arabischen Christen- und Judentum der Islam entstanden. Während aber das Christentum aus der griechisch-römischen Kultur herausgewachsen ist und daher eine Nachfolgekultur ist, hat der Islam die bestehenden Kulturen des Mittelmeerraums bekämpft und zu zerstören versucht, sei es Byzanz, sei es die christlichen Königreiche in Spanien. Insofern ist die islamische Kultur allenfalls marginal eine Nachfolgekultur der griechisch-römischen Antike.
5. Kultur und Religion, Denken und Religion.
Zitat Averroes und Avicenna, die Gorgasal genannt hat, auch beispielsweise Alhazen (einer der größen Naturwissenschafter aller Zeiten; Aristoteles, Newton, Einstein gleichzustellen) waren Moslems, so wie Galilei, Descartes, Leibniz und Kant Christen waren. Wer will entscheiden, wie sehr ihr Denken von der jeweiligen Religion abhing? Dasselbe gilt für die Architektur und die Literatur, zum Beispiel die herausragende persische Lyrik.
Es steht außer Frage, dass jede Kultur besondere Leistungen aufzuweisen hat, seien es besondere technische Leistungen wie die ägyptischen Pyramiden, seien es intellektuelle Leistungen wie die eine Newton oder Avicenna. Für die Zeit wenigstens bis um 1800 sind meiner Ansicht nach die Leistungen einer Kultur kaum von der Religion zu trennen, da Kultur und Religion wenigstens bis dahin ein letztlich unauflösbares Etwas bildeten, auch wenn der Anteil nicht konkret zu beziffern ist. Aber auch, wenn man den Anteil nicht nennen kann, den die Religion konkret bei einer Leistung ausmacht, so ist doch ganz entscheidend, dass die Kultur und damit auch die Religion die Rahmenbedingungen gibt, unter denen eine bestimmte Leistung erst möglich ist. In diesem Sinne hat das Christentum erst den Denkern von Hrabanus Maurus über Ivo von Chartres und Albertus Magnus bis zu Lessing erst die Grundlage gegeben, auf denen sie aufbauen. Gleiches scheint mir für die islamisch-arabisch-persischen Geistesgrößen zu gelten.
6. Renaissance und Aufklärung? Nein, das MIttelalter.
Zitat Die Überlegenheit unserer abendländischen Kultur verdankt sich der Entwicklung, die sich in der Renaissance vorbereitete und die mit dem späten 16. und dem 17. Jahrhundert einsetzte: Das, was man gern die Konstituierung des bürgerlichen Individuums nennt.
Das scheint mir deutlich zu kurz gegriffen. Weder die Aufklärung noch die Renaissance sind ausreichend, um die Entwicklung der westlichen modernen Kultur und den Unterschied zur muslimisch-arabischen Welt zu erklären und zu verstehen. Die Aufklärung und davor die Renaissance (oder besser vielleicht der Humanismus) sind nur konsequente Weiterentwicklung der geistesgeschichtlichen Entwicklung wenigstens seit der Scholastik, wenn nicht früher. Ich würde gerne beginnen mit der karolingischen Renaissance, die Schule von Chartres einbeziehen und dann v.a. die Scholastik sehr betonen. Hier entsteht im hohen Mittelalter das, was unsere Kultur ausmacht, hier entsteht die Universität, die auf Überzeugung durch Argumente setzt, hier liegen die Wurzeln der modernen Wissenschaft, hier finden sich Grundlagen für die Wirtschaftstheorie etc.pp.
Hier sehe ich dann doch einen fundamentalen Unterschied zwischen dem christlichen Abendland und der muslimischen Welt: Schon im MIttelalter ist die Entwicklung im christlichen Europa entscheidend anders als in der islamischen Welt, und die Ursache hierfür sind die unterschiedlichen Religionen und die dadurch ganz unterschiedliche Prägung der Menschen und deren Denkweisen.
Zitat Bis ins 17., teils noch ins 18. Jahrhundert waren die abendländische Kultur und Kultur und die Kultur des Orients in nahezu jeder Hinsicht auf einem ähnlichen Stand; von den Künsten über die Verwaltung, die höfischen Sitten, die Bildung der Bevölkerung bis hin zum Stand der Militärtechnik; dieser war natürlich für die Machtverhältnisse ausschlaggebend. Als die Türken vor Wien standen, hatten sie mindestens eine so gute Militärtechnik (vor allem auch Militäringenieure) wie die Belagerten.
Dass die Türken über eine gute Militärtechnik verfügten, zeigt die Geschichte. Im Umfeld des Hofes, der Höfe waren die Sitten und Bildung und die Kunst sicher vergleichbar. Das scheint man mir aber nicht verallgemeinern zu dürfen auf die gesamte Gesellschaft hin. Sowohl was die Verwaltung schon des Spätmittelalters angeht, habe ich nicht den Eindruck, dass das Osmanische Reich auf Augenhöhe mit dem Westen war; erst recht nicht, was die Verbreitung und Verfügbarkeit von kulturellen Leistungen verschiedener Art angeht. Natürlich gibt es im Orient i.w.S. großartige Bauwerke und technische Meisterleistungen; soweit ich sehe, hat aber das christliche Mittelalter in unvergleichlich größerem Maße, in viel größerer Zahl z.B. Kathedralen und Kirchen hinterlassen, hat das Christentum den Boden bereitet für eine viel umfassendere kulturelle Entwicklung und Prägung.
Bis hier, evtl. noch eine Fortsetzung später.
edit: Fortsetzung mit Nr. 7 im Anschluss an Nr. 6
7. Entfaltung und Differenziertheit
Die christliche Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit hat zwischen Spanien und Polen, zwischen Sizilien und Skandinavien eine unglaublich umfangreiche und differenzierte Menge an kulturellen Erzeugnissen im weitesten Sinne hervorgebracht - mindestens ein Dutzend Nationalliteraturen mit jeweils mehreren Epochen zwischen dem 7./8. und dem 17./18. Jh.; eine ausdifferenzierte Musikgeschichte und -kultur; eine hoch komplexe Religion und Liturgie; eine schier unendliche Fülle an theologischer Literatur in Latein und den Volkssprachen; die Entwicklung der abendländischen Universität und Wissenschaft; eine Kunstgeschichte mit zahlreichen Epochen, Künstlern und Werken von Weltgeltung; die Entwicklung von unterschiedlichen politischen Systemen von der Monarchie bis zur Republik und bis zur partiell demokratischen Verfassung spätmittelalterlicher Städte; etc. Zugleich ist diese Kultur ubiquitär; trotz aller kriegsbedingten Verluste sind die europäischen Länder voller Baudenkmäler, voller Kunstwerke, voller Bibliotheken mit mittelalterlichen Handschriften udn frühneuzeitlicher Drucke, und zwar nicht nur in den größten Städten, sondern mehr oder weniger flächendeckend. Schließlich müssten für eine auch nur annähernd hinreichende Beschreibung der abendländischen Kultur in Grundzügen hunderte Namen genannt werden von Forschern, Wissenschaftlern, Theologen, Komponisten, Malern.
Mein Eindruck ist, dass diese Vielfalt und Ausdifferenziertheit und Verbreitung und Menge für die islamische Kultur nicht in gleichem Maße gilt. Damit sei gar nicht bestritten, dass es selbstverständlich persische Lyrik von Weltgeltung gibt, dass es hervorragende Kunstwerke aus der islamischen Welt gibt. Aber doch nicht in gleicher Menge, Differenziertheit, Verbreitung, ZUgänglichkeit auch für das "Volk"? Vielleicht ist mein Eindruck europazentristisch und falsch; dann bitte ich um Korrektur. Wo sind die zahlreichen Moscheen von Weltgeltung, die nach Zahl und Qualität ein Äquivalent sind für die spätantiken Kirchen Roms, die romanischen Kirchen mit ihren Portalen in Burgund, für die romanischen Dome in Deutschland, die gotischen Kathedralen in Frankreich und England, für die Renaissance-Bauten in Italien, die barocken Klosteranlagen in Süddeutschland? Wo ist das Äquivalent die Werke der karolingischen Renaissance, für den höfischen Roman, den Minnesang und die Troubadour-Dichtung, für die spätmittelalterlichen Traktate, die humanistische Literatur, die Lyrik des europäischen Barock, die Literatur der Weimarer Klassik? Wo ist das Äquivalent für die karolingischen Fresken in Müstair, die gotische Malerei in Florenz und Siena, für Giotto, Tizian, Michelangelo, Rubens, Brueghel, Lochner? Wo sind in islamisch-arabischen Ländern nach Qualität und Umfang die Äquivalente für den Prado, die Uffizien, das Kunsthistorische Museum, die Vatikanischen Museen, die Alte Nationalgalerie, das British Museum, das Bode-Museum, das Wallraff-Richartz-Museum? - Für eine Belehrung wäre ich dankbar und bin darauf gespannt.
Noch ein edit um 18.00:
8. Ein weiterer gewichtiger und m.E. auch religiös begründeter Kulturunterschied liegt im Umgang mit der jeweils anderen Seite: Auf der einen Seite steht bis ins 19. und 20. Jh. die Dhimma; steht die Divscherme; steht die Piraterie im Mittelmeer mit dem Sklavenfang in sechs- oder siebenstelliger Höhe; steht die Versklavung von Christen aus Italien, Griechenland, Spanien (vgl. noch die "Judenbuche" der Droste) - auf der anderen Seite schon vor der Aufklärung, schon in der Scholastik die Entstehung der Vorstellung von Menschenrechten unabhängig von der Religion; im 16. Jh. die theologisch begründete Kritik am Umgang der Spanier mit dem Indianern (wo ist im Islam die theologische Kritik an der Sklaverei?); der Kampf gegen die Sklaverei und deren Abschaffung, ja der Einsatz gegen Sklaverei fernab der eigenen Gebiete (Barbary War). Diese ganz unterschiedliche Entwicklung zeigt ein gänzlich differentes Menschenbild, das m.E. wieder in der jeweiligen Religion wurzelt und im Westen schon lange vor der Aufklärung zum Tragen kommt.
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