Lieber Gansguoter,
hier der Versuch einer Antwort:
Zitat von Gansguoter 1. Ich bin überzeugt, dass man (Hoch-)Kulturen beurteilen und bewerten und durchaus miteinander vergleichen kann, und zwar in doppelter Hinsicht: a) in Hinblick auf die Entfaltung der jeweiligen Kultur, ihre Ausdifferenziertheit, ihre Leistungen auf verschiedenen Gebieten, aber jeweils synchron, in ihrer Zeit; b) in Hinblick auf ihren Beitrag für unsere heutige Welt und Kultur.
b) ist sicherlich richtig. Die süd- und mittelamerikanischen Kulturen spielen in dieser Hinsicht zum Beispiel keine Rolle, weil sie mit der spanischen Eroberung faktisch endeten.
a) ist schwierig. Wie würde aus Ihrer Sicht beispielsweise der Vergleich zwischen der jüdischen, der ägyptischen, der altpersischen Kultur nach diesen Kriterien ausgehen? Wie innerhalb der Antike der Vergleich zwischen der griechischen und der römischen Kultur?
Zitat 2. Zur Trennung von Religion und Kultur. Sie schreiben:
Zitat Erstens ist zu unterscheiden zwischen dem Islam als Religion und der Kultur der islamischen Länder. Auf die analoge Unterscheidung zwischen dem Christentum und der Kultur des Abendlands bin ich im zweiten Teil des Kommentars zum Thesenpapier der fünf FDP-Politiker eingegangen.
Diese Trennung ist für die Gegenwart und den Westen sicher angemessen; wir haben eine westliche Kultur, die aber getrennt ist von der Religion und Religiosität. Inwieweit man für den Orient heute zwischen Religion und Kultur trennen kann, sei dahingestellt. Für den Westen gilt die Trennung von Christentum und Kultur für die Zeit zwischen Völkerwanderung oder Karolingerzeit bis zur Französischen Revolution NICHT. Die europäische Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bis 1789 ist eine christliche Kultur, getrennt vom und ohne das Christentum nicht denkbar. M.E. gilt dies entsprechend auch für die muslimisch-arabische bzw. muslimisch-türkische Welt entsprechend.
Dem widerspreche ich gar nicht, lieber Gansguoter.
Die betreffende Kultur ist ohne die Religion nicht "denkbar", dh sie wäre ohne diese nicht so, wie sie ist oder war. Das bedeutet aber nicht, daß die Kultur sich in der jeweiligen Religion erschöpft. Sie ist ein Aspekt dieser Kultur.
Wie wichtig, das ist für die einzelnen Kulturen sehr verschieden. Für die ägyptische und die jüdische Kultur zum Beispiel war/ist die Religion konstitutiv. Für die römische Kultur spielte sie nur eine marginale Rolle.
Zitat 3: Das christliche Abendland - das muslimische Morgenland: Wenn ich als Historiker vom christlichen Mittelalter spreche und die Aspekte betone, die die Einheit des christlichen Mittelalters ausmache, blende ich natürlich die existierenden Unterschiede zwischen Spanien und Dänemark oder Sizilien und Polen aus, ebenso die natürlich auch existierenden Christen in Ägypten, in Amerika oder China oder wo auch immer. Trotzdem stellt sich das christliche MIttelalter als eine christliche Kultur dar. Dementsprechend repliziere ich:
Zitat Die Kultur des Orients ist reicher als die des Islam, und der Islam existiert andererseits ja auch außerhalb des Orients - in Indonesien zum Beispiel, in Bangla Desh, in Zentralasien. Die großen Teilkulturen der Kultur des Orients, eng miteinander verzahnt, sind die persische, die arabische und die türkische.
Wenn wir im historischen Vergleich bleiben, können wir uns m.E. einstweilen beschränken auf das christliche Mittelalter und den muslimischen Orient unter Ausschluss etwa der Muslime in Afrika oder Indonesien (wobei die Islamisierung dort m.W. ohnehin jüngeren Datums ist.
Siehe Punkt 2. Die Kultur des Orients wäre ohne den Islam nicht so, wie sie ist. Aber sie wäre auch ohne den (wie schon geschrieben, sehr starken) Einfluß von Byzanz nicht so, wie sie ist. Ebenso nicht ohne die jeweiligen vorislamischen Kulturen in Persien, im Zweistromland, in Ägypten.
Zitat 4. (...) Während aber das Christentum aus der griechisch-römischen Kultur herausgewachsen ist und daher eine Nachfolgekultur ist, hat der Islam die bestehenden Kulturen des Mittelmeerraums bekämpft und zu zerstören versucht, sei es Byzanz, sei es die christlichen Königreiche in Spanien. Insofern ist die islamische Kultur allenfalls marginal eine Nachfolgekultur der griechisch-römischen Antike.
Diesen Gegensatz sehe ich nicht. Auch die Germanen der Völkerwanderung haben das römische Reich "bekämpft und zu zerstören versucht". Auch sie haben zugleich aber die römische Kultur weitgehend übernommen. Die Beziehung zwischen Byzanz und den Arabern ist sehr ähnlich. Ich habe dazu einmal das eine oder andere gelesen und schreibe vielleicht bei anderer Gelegenheit mehr dazu.
Zitat 5. (...) Aber auch, wenn man den Anteil nicht nennen kann, den die Religion konkret bei einer Leistung ausmacht, so ist doch ganz entscheidend, dass die Kultur und damit auch die Religion die Rahmenbedingungen gibt, unter denen eine bestimmte Leistung erst möglich ist. In diesem Sinne hat das Christentum erst den Denkern von Hrabanus Maurus über Ivo von Chartres und Albertus Magnus bis zu Lessing erst die Grundlage gegeben, auf denen sie aufbauen. Gleiches scheint mir für die islamisch-arabisch-persischen Geistesgrößen zu gelten.
Dem stimme ich ja zu, lieber Gansguoter. Ich habe in dem Artikel zum Thesenpapier darauf aufmerksam gemacht, daß man eben nicht die Entwicklung von der Renaissance bis zur Aufklärung dem Christentum entgegenstellen kann; sie ist aus der Philosophie des Mittelalters hervorgegangen. Das gilt in jeder Hinsicht: Für die formale Schulung des Denkens in der Scholastik, für die Bewahrung des griechischen Erbes; und auch für die Formulierung der Grundprobleme. Nikolaus von Kues hat zum Beispiel die Fragen der Erkenntnistheorie, die dann von Descartes bis Kant im Zentrum standen, formuliert; nur als die Frage nach der Erkennbarkeit Gottes.
Zitat 6. Renaissance und Aufklärung? Nein, das MIttelalter.
Zitat Die Überlegenheit unserer abendländischen Kultur verdankt sich der Entwicklung, die sich in der Renaissance vorbereitete und die mit dem späten 16. und dem 17. Jahrhundert einsetzte: Das, was man gern die Konstituierung des bürgerlichen Individuums nennt.
Das scheint mir deutlich zu kurz gegriffen. Weder die Aufklärung noch die Renaissance sind ausreichend, um die Entwicklung der westlichen modernen Kultur und den Unterschied zur muslimisch-arabischen Welt zu erklären und zu verstehen. Die Aufklärung und davor die Renaissance (oder besser vielleicht der Humanismus) sind nur konsequente Weiterentwicklung der geistesgeschichtlichen Entwicklung wenigstens seit der Scholastik, wenn nicht früher. Ich würde gerne beginnen mit der karolingischen Renaissance, die Schule von Chartres einbeziehen und dann v.a. die Scholastik sehr betonen. Hier entsteht im hohen Mittelalter das, was unsere Kultur ausmacht, hier entsteht die Universität, die auf Überzeugung durch Argumente setzt, hier liegen die Wurzeln der modernen Wissenschaft, hier finden sich Grundlagen für die Wirtschaftstheorie etc.pp.
Das ist eine schwierige Frage, die man im Detail diskutieren müßte. Den Anteil des Mittelalters bestreite ich ja nicht; siehe oben. Aber zugleich war eben die Philosophie der Neuzeit auch eine Abkehr vom Mittelalter. In der Renaissance, im Humanismus durch die Wiederentdeckung der Antike; und zwar nun in einer doch anderen Rezeption als im Mittelalter. Es wird die sokratische Freiheit wiederentdeckt. Aristoteles ist nicht mehr Autorität, sondern Anreger.
Übergänge gibt es immer. Vorbereitendes gibt es immer. Aber Galilei, Descartes und übrigens auch Francis Bacon, der in Deutschland oft weniger gewürdigte Dritte im Bunde, haben aus meiner Sicht schon grundsätzlich anders gedacht als eben auch noch Nikolaus von Kues. Da tritt das Individuum in den Mittelpunkt statt der kirchlichen Autorität; da gewinnt die Empirie bei allen dreien eine herausragende Bedeutung (bei Bacon in seiner Erkenntnistheorie, bei Galilei in seiner praktischen Forschung, bei Descartes in beiden Bereichen).
Zitat Dass die Türken über eine gute Militärtechnik verfügten, zeigt die Geschichte. Im Umfeld des Hofes, der Höfe waren die Sitten und Bildung und die Kunst sicher vergleichbar. Das scheint man mir aber nicht verallgemeinern zu dürfen auf die gesamte Gesellschaft hin. Sowohl was die Verwaltung schon des Spätmittelalters angeht, habe ich nicht den Eindruck, dass das Osmanische Reich auf Augenhöhe mit dem Westen war; erst recht nicht, was die Verbreitung und Verfügbarkeit von kulturellen Leistungen verschiedener Art angeht. Natürlich gibt es im Orient i.w.S. großartige Bauwerke und technische Meisterleistungen; soweit ich sehe, hat aber das christliche Mittelalter in unvergleichlich größerem Maße, in viel größerer Zahl z.B. Kathedralen und Kirchen hinterlassen, hat das Christentum den Boden bereitet für eine viel umfassendere kulturelle Entwicklung und Prägung.
Das führt uns wieder zum Anfang zurück: Wie will man kulturelle Leistungen hinsichtlich ihrer Bedeutung vergleichen?
Man kann das sicherlich für einzelne Bereiche. Die Griechen waren bessere Philosophen als die Römer, diese waren die besseren Juristen und Ingenieure. Die Ägypter waren bessere Mathematiker als die Juden; diese haben mit dem Alten Testament ein einmaliges Werk der Geschichtsschreibung und der Lebensphilosophie geschaffen.
Aber eine Gesamtbewertung traue ich mir, wie gesagt, nicht zu.
Herzlich, Zettel
PS: Auf ihre Fortsetzung antworte ich später getrennt.
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