Zitat von Nepumuk Im übrigen halte ich es als nicht verkaufsfördernd für ein Nachrichtenmagazin keine wirkliche Nachricht auf dem Titel zu haben, sondern "wischiwaschi-themen".
Die gab es alllerdings beim "Spiegel" immer schon, lieber Nepumuk.
Ich wollte jetzt meine Erinnerung an 1956 verifizieren und habe im Archiv nachgesehen. Es zeigt jetzt nur noch die Titelvariante mit Imre Nagy. Aber im "Lieber Spiegelleser" von Rudolf Augstein (dem Vorläufer der heutigen "Hausmitteilungen"; damals aber eher selten) steht das, was ich geschrieben hatte:
Zitat Es ist möglich, daß Sie den SPIEGEL dieser Woche mit zwei verschiedenen Titelbildern am Kiosk hängen sehen, was in der 10jährigen Geschichte unseres Blattes ohne Beispiel ist. Nicht nur, daß der angekündigte Rock-Wimmerer Presley auf ruhigere Zeiten verschoben wurde - statt seiner erscheint auf 80 000 Umschlägen das Bild des ägyptischen Oberkommandierenden Abd el -Hakim Amir, auf 190 000 hingegen der Ungar Nagy, der erste kommunistische Ministerpräsident, der die Uno gegen die Sowjets angerufen hat. (...)
Während die Ungarn mit ihren Unterdrückern abrechneten, besorgten wir ein Photo des tragisch zu spät gekommenen Nagy, den wir immerhin für den einzigen hielten, der die diffizile Situation in Ungarn würde auffangen können. Aber die Nachrichten, daß er sich gegen das überschäumende Freiheitsstreben nicht halten könne, vermehrten sich Mitte voriger Woche immer mehr.
Inzwischen hatten die Engländer und Franzosen am Suez-Kanal mit Rock'n'-Roll à la Presley begonnen. Unser Umschlag, der nicht mit dem Textteil durch die Rotation laufen kann, sondern Bogen für Bogen vorweg hergestellt wird, mußte nun losdrucken. Wir klischierten General Amir, den Oberbefehlshaber der ägyptischen Verteidigungs-Streitkräfte, einen Mann in einer wenig beneidenswerten Situation und auch nicht gerade eine Schlüsselfigur der Weltpolitik. Nagy klischierten wir ebenfalls, aber Amir lief durch die Druckmaschine.
Da wurde am Donnerstagabend gemeldet, daß Nagy gegen die Verstärkung der Sowjet-Truppen in Ungarn protestiert und daß er die Vollversammlung der Vereinten Nationen angerufen habe. Nun hatte der Kommunist, gleichgültig, was aus ihm persönlich werden würde, Tatsachen geschaffen. Er hatte den Zeiger der Weltenuhr um eine Minute vorgerückt, die niemand wieder ungeschehen machen kann, was immer den tapferen Ungarn an Wirren noch bevorstehen wird.
Die Bogen mit Hakim Amir wurden gestoppt. Imre Nagy wurde die Titelfigur unserer Nummer 45, die solcherart zwei Titelgeschichten enthält.
Da ich nun schon einmal beim Herumsuchen im Archiv des "Spiegel" war, habe ich gleich auch noch meine Erinnerungen bezüglich des Punkts "Wischiwaschi" zu bestätigen versucht und kuriose Titel gesucht, an die ich mich erinnerte. Hier sind einige:
"Der böseste Mund" (damals habe ich gelernt, was eine "Klatschkolumnistin" ist);
"Dicker, laß mich das singen" (begründete meine Begeisterung für die Kleine Cornelia; außerdem hatte ich sie live auf einer Veranstaltung erlebt, in der für das Trinken von Milch geworben wurde);
"Akrobat schöön!" (hat mich in die Welt des Zirkus eingeführt);
"Eine Tochter des Jahrhunderts" (der Kriminalfall Wilma Montesi; hat mein Italienbild geprägt);
Und so fort; bis zum Affen Mr. Muggs und der achtjähriegen Dichterin Minou Drouet.
Zitat von Nepumuk P.S. Ich meine mich zu erinnern, dass Enzensberger seine Frage für den Spiegel nicht sonderlich positiv beantwortet. Lobend hingegen sei erwähnt, dass der Spiegel damals das komplette (und wenig schmeichelhafte) Essay in seinem Heft abdruckte.
Stimmt. Allerdings unter der Überschrift "Meine Weisheit ist eine Binse", wenn ich mich recht erinnere (nicht nachgeprüft). Enzenserger hatte als eine seiner Thesen, daß der "Spiegel" kein Nachrichtenmagazin sei, weil in ihm Stories erschienen und keine Nachrichten. Eine andere war, daß der "Spiegel" nicht orientiert, sondern desorientiert, weil er den Leser über dessen Zustand der Unwissenheit hinwegtäuscht.
Herzlich, Zettel
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