Lieber stefanolix,
Zitat von stefanolix Die Bürger koppeln sich immer mehr von der Demokratie ab. Wenn hier im Kreis der politisch sehr interessierten und engagierten Teilnehmer wie selbstverständlich über Parteiaustritte und Wahlverweigerung gesprochen wird, dann ist das doch ein ganz lautes Alarmsignal!
Ihre Schlußfolgerung, "die Bürger koppeln sich immer mehr von der Demokratie ab", kann ich nicht nachvollziehen - auch oder schon gar nicht aus der Beobachtung heraus, daß verstärkt "über Parteiaustritte und Wahlverweigerung gesprochen wird".
Meine Wahrnehmung ist eine andere: Es wird derzeit (viel) stärker und oft mit deftigerer Wortwahl über "die Politik" gemeckert, weil die Opposition sowieso unzufrieden ist und viele Wähler dieser Regierung in allen Bereichen bitter enttäuscht sind (meistens aus all den Gründen, die hier im Forum immer wieder genannt werden), aber ich habe in meinem Umfeld noch kein einziges Mal gehört, daß man (deshalb) grundsätzlich mit der Demokratie und/oder dem Rechtsstaat hadert. Es ist eher das Gegenteil der Fall: Man fühlt sich übergangen, nicht gehört und es wird zu wenig Demokratie beklagt. Als Beispiel denke man nur daran, wie der Vertrag von Lissabon zustandegekommen ist: Das Volk wurde größtenteils gar nicht gefragt und wenn es mal die Chance bekommen und ihn abgelehnt hat, wurde der Ratifikationsprozeß einfach unverändert fortgesetzt und Wege gesucht und gefunden, wie man umgehen konnte, daß das Volk "falsch" abgestimmt hat. Bspw. hat Roman Herzog ausgeführt, wie das "Spiel über Bande" funktioniert, um über den Umweg EU durchzudrücken, was national nicht machbar ist. Die Bürger wenden sich nicht von Demokratie und Rechtsstaat ab, sondern sind maßlos enttäuscht von Parteien, wie diese zunehmend meinen, mit dem Volk umspringen zu können, wie sie wollen, sich nicht an Verträge halten etc. Es ist pure Frustration. (In diesem Sinne wird m. E. die Intention des Begriffes "EUdSSR" (wenn er von normalen Leuten und nicht Rechtsextremisten benutzt wird) nicht richtig verstanden und daher ist die Diskussion darüber hier im Forum auch etwas merkwürdig verlaufen: Mit diesem drastischen Ausdruck soll meinem Verständnis nach nicht die Europäische Union mit der Sowjetunion verglichen werden (was nun auch grober Unfug wäre und eine Verharmlosung der Verbrechen der Kommunisten darstellte), sondern die Ohnmacht der Bürger gegenüber einer EU dargestellt werden, die von ihr ständig neuen Unsinn übergebraten bekommen, ohne dagegen irgendetwas unternehmen zu können (denn bekanntlich hat das Parlament kaum was zu sagen, während man an die Schaltzentralen nicht herankommt) - mal unabhängig davon, was ich davon halte.)
Sicher gibt es Parteiaustritte. Wen wundert das schon, wenn man bedenkt, welcher Aktionismus in Wahlkämpfen verbreitet wird und welche Probleme erkannt, dargestellt und welche Lösungen in Aussicht gestellt werden, aber regelmäßig nach der Wahl keine einzige nennenswerte Reform stattfindet. Deswegen sind Austritte in erster Linie Kritik an der Partei, die nichts von dem hält, was man sich versprochen hat. Dem stehen ebenfalls Neugründungen gegenüber, die man nicht vergessen sollte: Freie Wähler, Die Freiheit oder Bürger in Wut seien als Beispiele genannt.
Wahlverweigerung? Ich weiß nicht, ob mir der Begriff gefällt: Nicht zu wählen, ist letztendlich auch eine Wahl. Auch hier sehe ich in erster Linie den Frust gegenüber den Parteien: Ganz egal, welche Regierung gewählt wird, weiß ich vorher, daß es auf jeden Fall mehr Bürokratie, mehr Regulierung, eine höhere Verschuldung, stärkere Bevormundung und keine nennenswerten Reformen (denn die brächten ja vor allem den Abbau von Versorgungsposten mit sich) geben wird. Von den vielen Lösungsvorschlägen, auf denen im Wahlkampf herumgeritten wird, weiß ich vorher, daß ich sie mir nach der Wahl in die Haare schmieren kann und so getan wird, als gäbe es die Probleme gar nicht, die man zuvor noch klar dargestellt hat. Von solchen Aktionen wie der Resolution des Bundestages gegen Israel, die einstimmig verabschiedet wurde, ganz zu schweigen. Es werden sich also manche Leute denken, daß es sich nicht lohnt, zur Wahl zu gehen, wenn man nicht wirklich eine Wahl hat. Auch das ist keine Kritik an Demokratie und Rechtsstaat.
Weiter könnte man sagen, die von Ihnen beklagten Beobachtungen sind ein Ergebnis dessen, weil die Bürger Demokraten sind. Erzählt wird von Steuerreformen, Bürokratieabbau und Sparhaushalten, aber in der Realität bekommt man den Bruch der EU-Verträge, mehr Regulierung und Rekordverschuldung. Es wäre doch schlimm, wenn es darauf keine Reaktion gäbe und die Bürger so handelten, als sei alles in Ordnung, meinen Sie nicht?
MfG
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