Mir ist noch nicht ganz klar, was der Sinn deines Beitrags ist, Gansguoter.
Dass Menschen persönliche Schuld, insbesondere in der Form des an eines weit vom Geschehen entfernten, diesem aber letztlich zutragenden Mitmachens, zu verdrängen suchen, ist wohl keine überragende Neuigkeit. Schon von daher muss die Frage "Wurde wirklich alles persönlich aufgearbeitet?" mit "Nein" beantwortet werden. Und wahrscheinlich wird das auch so bleiben. Die eigentliche Frage ist aber: "So what?"
Ich will mal versuchen, das aus meiner persönlichen Sicht zu beantworten. Über die Nazizeit konnte ich nur mit meinen Eltern sprechen, weil die Großeltern auf der einen Seite schon tot, und die auf der anderen Seite aus unterschiedlichen Gründen solchen Diskussionen nicht zugänglich waren. Meine Mutter war glühende Bewunderin Hitlers, was aber durch ihr Alter (BDM-Mitglied) und ihr Nicht-Verhältnis zu ihrem Vater erklärbar war. Persönliche Schuld konnte sie mangels Gelegenheit nicht auf sich laden. Mein Vater stammte aus einem sehr katholischen Milieu, und diese gehörten bekanntermaßen zu jenen, in denen die Nazis nicht viel zu gewinnen hatten. Man wich aber der Gewalt, und das dürfte damals auf viele zugetroffen haben. Mein Vater diente als Soldat an der Westfront (Funker) und in der Heimat (Flak), und er berichtete mir einmal, wie er das erste Mal von den Verbrechen an den Juden erfuhr. Das geschah irgendwann im Lauf des Krieges, als er, am Bahnhof auf seinen Zug wartend, mit einem SS-Mann ins Gespräch kam, der ihm stolz Bilder zeigte, wie im Osten massenhaft Juden exekutiert wurden. Von da an wusste er Bescheid, aber ich rechne es ihm hoch an, dass er dadurch nicht zum Selbstmörder wurde, denn ansonsten könnte ich hier nicht mitdiskutieren... Ich halte seine Schilderung übrigens für absolut glaubhaft. Dieser Mann konnte gar nicht lügen, ohne dass man es ihm ansah.
Sicher, viele haben mitgemacht, ansonsten hätte der Apparat nicht funktioniert. Und viele machen auch heute bei allen möglichen Ungerechtigkeiten und Schlechtigkeiten mit, einfach weil in einer arbeitsteiligen Gesellschaft das Mitmachen an einem Unrecht möglich ist, ohne die uns im Lauf der Evolution oder von mir aus gerne auch gottgegebenen Hemmschwellen erst anzusprechen (interessanterweise ein Unterfall des Bastiatschen "ce qu'on voit et ce qu'on ne voit pas"). Wie zahlreiche soziologische und psychologische Experimente gezeigt haben, sind viele Menschen sogar dazu bereit, diese zu überwinden, wenn das alles nur mit einer ohne Zweifel guten Sache begründet wird. Unter anderem deswegen bin ich übrigens automatisch gegen alles, was von einer überwältigenen Mehrheit als "ohne Zweifel gut" bewertet wird.
Diese Mischung aus begründender Ideologie, Egoismus und Angst vor Repressalien zieht auch heute noch überall auf der Welt. Was von den dreien auf wieviele Deutsche zugetroffen haben mag, will ich nicht beurteilen. Aber dass es Deutsche gab, die sich die letzten Monströsitäten des Hitlerschen Judenhasses, also die Vernichtungslager, nicht vorstellen konnten, das halte ich für ebenso glaubwürdig wie die interessanterweise als Tatsache anerkannte Behauptung, unter den Juden sei der Widerstand gegen die systematische Vernichtung deshalb so gering ausgefallen, weil sich nur wenige vorstellen konnten, was wirklich auf sie wartete. Es handelte sich um dieselbe Nachbarschaft - warum sollten die einen mehr wissen als die anderen? Und umgekehrt gab es Deutsche, die etwas wissen konnten, aber es nicht wissen wollten. Und Deutsche, die es wussten, aber meinten, nichts dagegen tun zu können. Und Deutsche, die es wussten, und es gut fanden. Und Deutsche, die mitgemacht haben. All das wäre auch an jedem anderen Ort dieser Welt unter ähnlichen Voraussetzungen zu erwarten. Persönliche Aufarbeitung sollte auch individuell bleiben. Wenn es aber darum geht, welche Konsequenzen aus dem Dritten Reich und seinen Verbrechen zu ziehen sind, dann glaube ich nicht, dass uns da noch etwas fehlt, was eine zusätzliche "Aufarbeitung" bringen würde.
Viel wichtiger erscheint mir das, worauf auch Broder immer wieder hinweist: Man muss weg von den Ritualen, weg vom nacheilenden Widerstand gegen mühsam heraufbeschworene "rechte Gefahr", und rein in die Wirklichkeit, wo heutzutage wieder das Existenzrecht von Juden zur Disposition gestellt wird. -- L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)
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