Lieber David,
mich überrascht Ihre Empörung über die Diskussion ein wenig, da ich meine, dass wir den wesentlichen Punkten einer Meinung sein dürften. Haben Sie meinen ersten Beitrag in ZR gelesen?
Zitat - Wieso stellt ein Nachkomme der Täter eben diese als geschundene Generationen dar? Wo bleiben da die Opfer dieser Generationen?
Ich meine, ich hätte schon deutlich gemacht, dass ich vor allem eine eher abstrakte Auseinandersetzung mit dem "Dritten Reich" konstatiere, bei der die Täter unsichtbar bleiben; dass mir die Auseinandersetzung mit den konkreten Taten Einzelner unzureichend erscheint, wohl aber sehr notwendig.
Die Bezeichnung "geschundene Generation" stammt von Zettel (auch wenn ich meine, sie andernorts auch schon gelesen zu haben). Damit möchte wohl weder Zettel und noch ich relativieren, was zwischen 1933 und 1945 an Verbrechen begangen worden sind. Nicht die Täter habe ich als, hat Zettel als "geschundene Generation" bezeichnet, sondern die Menschen, die zwischen 1890 und 1930 geboren worden sind. Die Täter entstammen dieser "geschundenen Generation", aber sind natürlich Täter.
Die Schuld an den Verbrechen, die begangen worden sind, steht ja außer Frage. Aber es bleibt ja die Frage, wie und warum jemand schuldig wird. Die Täter des "Dritten Reiches" hätten ja ganz überwiegend ein ganz normales unauffälliges Leben geführt, wären sie zu anderer Zeit geboren und hätten unter anderen Umständen gelebt. Wieso wird jemand schuldig (in ganz unterschiedlichem Maße)? Ohne die individuelle Schuld und Verantwortung kleinreden zu wollen, spielen sicherlich auch die Lebensumstände eine Rolle, die Strukturen, die politischen Rahmenbedingungen, die dazu führen, dass manch einer zum Täter wird, der es sonst nicht geworden wäre. Wie gesagt: Das ist keine Relativierung oder Verharmlosung! Die Wähler Hitlers von 1932 wollten allenfalls in der Minderheit ihre antisemitischen Hassgefühle ausleben; keiner der Wähler Hitlers hat 1932 willentlich "für Holocaust und Weltkrieg" gestimmt. Die meisten sind auf Hitlers Versprechungen hereingefallen, er könne und werde die Situation für Deutschland bessern. Indem sich die WÄhler für eine Partei entschieden haben, von der sie sich wirtschaftlichen Aufschwung und Aufhebung der Folgen des Versailler Vertrags erhofften, bereiteten sie aber alles vor für Diktatur und Völkermord. Diese Wahlentscheidung, die ich hier exemplarisch herausgreife, kann aber wieder nur verstehen auf dem Hintergrund der Geschichte seit 1914. Nationalistisch aufgehetzt vor dem Ersten Weltkrieg, in den Europa geraten ist durch eine Mischung von verantwortungsloser Politik und krisenfördernden Strukturen; dann der Frust über die Niederlage; die schlechten Erfahrungen mit der Republik von Weimar und so fort. Ein junger Mann Jahrgang 1890 hat erst zwei oder drei Jahre mit militärischem Drill zugebracht; dann lag er vier Jahre seines Lebens im Trommelfeuer der Westfront; wenn er das überlebt hatte, erlebte er bürgerkriegsähnliche Zustände 1918/19, den Verlust seiner Ersparnisse bis 1923; wurde 1929 oder 1930 arbeitslos und hatte keine Perspektive, wie es weitergehen sollte. Bis hierher kann man die Menschen dieses Jahrgangs sehr wohl als "geschundene Generation" bezeichnen (die Individuen, die doch letztlich keinen Einfluss auf die Große Politik hatten), auch übrigens die deutschen Juden, denen es bis dahin nicht anders ergangen ist. - Und mit 1930 hatte das ja kein Ende. Es folgten die Krisenjahre bis 1932/33. Manch einer sah dann im Dritten Reich erstmals eine Chance, aus dem Schlamassel wieder herauszukommen, nur im sich ab 1939 wieder im Krieg zu finden und 1945 in einem zerstörten Land. Und wer ganz im Osten war, wurde vertrieben, und wer in Mitteldeutschland war, landete 1949 in der nächsten Diktatur und wurde nicht mehr frei für den Rest seines Lebens. - Das charakterisiert die Bedingungen, unter denen die Generation von 1890 bis 1930 sich im Leben einrichten musste. Das gibt den Hintergrund, vor dem ein Teil zu Tätern geworden ist, relativiert aber nicht deren Schuld. Schwierig finde ich es zu sagen, ab wann ist jemand schuldig im moralischen (nicht strafrechtlichen Sinne); sehe eben auch, dass die Strukturen dazu beigetragen haben.
Zitat - Wieso gedenkt man regelmäßig den Männern des 20. Juli, deren primäres Ziel es war, den Untergang Deutschlands zu verhindern, denen die Opfer Deutschlands aber ziemlich egal waren?
Unter den Attentätern waren Antisemiten und Kriegsverbrecher. Natürlich waren die Attentäter auch Teil des Systems, waren sie (überwiegend) keine Demokraten nach unserer Auffassung. Andere sind wegen Empörung über den Holocaust zu den Attentätern gestoßen (v. d. Bussche). Reicht es aus, um als Widerstandskämpfer anerkannt zu werden, den Versuch unternommen zu haben, Hitler und damit das Morden zu stoppen, oder muss auch das richtige demokratische Bewusstsein dazukommen?
Zitat - Warum liefert eine Google-Suche nach "Oskar-Schindler-Strasse" nur 29.300 Treffer, eine Suche nach "Rosa-Luxemburg-Strasse" 389.000 Treffer?
Die "Karl-Marx-Straße bringt es sogar auf 1,5 Mio. Treffer. Dass es nur wenige Oskar-Schindler-Straßen gibt, liegt wohl daran, dass O.Sch. erst spät bekannt geworden ist. - Die Zahlen zeigen die fortwährende Verehrung für linke Verbrecher.
Zitat Wo ist die wiederkehrende Anerkennung all der namenloser Helfer verfolgter Juden im 3. Reich?
Vielleicht, eben weil sie namenlos sind? - Die einen Namen haben, werden - zum Glück - ja auch anerkannt. In Bonn wurde jetzt eine neue Gesamtschule nach Marie Kahle benannt, nach der in Bonn auch eine Straße benannt ist.
Zitat ich bereue die Tat, weil ich erkenne, welches Leid ich über die Opfer gebracht habe. Im Aufarbeiten der ersten Art von Reue sind die Deutschen Weltmeister, man sieht auch an diesem Thread wieder einmal exemplarisch, das die zweite Art nicht existent ist. Warum sollte man den Deutschen dann abkaufen, dass sie ihre Lektion wirklich gelernt haben?
Diesen Vorwurf hier an mich oder das Forum zu richten, ist falsch. Bereuen können nur die Täter; die meisten Täter leben nicht mehr. Von uns Heutigen kann man keine Reue verlangen; ich kann erschüttert sein und beschämt (und bin es) über das, was die Generation meiner Großeltern angerichtet hat, wie sich konkret Familienangehörige verhalten haben. Ich kann mich als Lehrer sehr aktiv dafür einsetzen, dass sich so etwas in welchem Kontext auch immer nicht wiederholen möge. Bereuen kann ich es nicht.
Zitat Warum beharren Deutsche nur bei der Aufarbeitung des dritten Reiches so sehr auf der Position der "Individuellen Schuld"?
Weil SChuld immer individuell ist.
Zitat Im sonstigen Alltag höre und lese ich pausenlos kollektive Schuldzuweisungen durch Deutsche Individuen (Heuschrecken, Spekulanten, Kapitalisten, Großfinanz, Amis, Israelis, Lobbyisten, Politiker, etc.). Müssten da nicht gerade Deutsche mit ihren Schuldzuweisungen differenzierter sein und nur dann von Schuldigen sprechen, wenn diese auch individuell benennbar sind?
Das gilt nicht nur für Deutsche.
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