Zitat In diesem Fall dieses singulären Massenmords wird sich das politische Spektrum aber nicht im Sinne des Killers verschieben, sondern nach links. Personen und Parteien, die islamkritische oder was auch immer für Auffassungen vertreten, die auch dieser Irre in seinem "Manifest" vertritt, werden mit Verweis genau darauf bekämpft werden.
Was das "politische Spektrum" sagt und tut sind oft zwei Dinge. Wenn es zutreffen sollte, daß Breivik einer losen Organisation, dieser Ritterschaft, angehört, aus der weitere Anschläge zu erwarten sind (es ist viel von Giftgas und kostspieliger Sabotage die Rede), und wenn diese Anschläge sich auch erfolgreich einstellen (sogar ganz unabhängig von der ursprünglichen Wahrheit der Existenz dieser Gruppe), dann hat das politische Spektrum ein Problem, das durch Bekundungen allein nicht zu lösen ist. Terrorismus funktioniert oft, das ist kein Geheimnis: Die Palästinenser genießen eine ihrer zahlenmäßigen Wichtigkeit völlig unangemessenene Aufmerksamkeit, mit viel Goodwill und Finanzhilfe; die Tschetschenen haben ihr islamisches Emirat bekommen und eine viertelmillion russische Zivilisten vertrieben; die IRA hat Irland die Unabhängigkeit gebracht und die Besetzung Nordirlands beendet, eine Eingliederung ist für die Zukunft abzusehen.
Breiviks Hauptanliegen ist ja keineswegs völlig unerhört oder utopisch, die CDU der 80er-Jahre, um nur ein Beispiel zu nennen, hatte das in getragenerer Formulierung alles noch im Programm. 1948 war der Kaiser 30 Jahre aus dem Amt, nächstes Jahr ist der 30. Jahrestag des Beginns der Ära Kohl. Monarchisten hatten 48, wenn ich da recht informiert bin, keine Stimme mehr -- aus verschiedensten Gründen. Heute sind Positionen, die der der CDU der 50er-80er entsprechen, im Mediendiskurs mit "Nazi" synonym.
Was aus alldem folgt, weiß ich auch nicht so genau, jedenfalls ist bemerkenswert, daß der Referenzrahmen sich diesmal derart schnell verschoben hat, ohne so klar greifbare Ereignisse wie die Weltkriege als Katalysator zu besitzen. Ebenfalls bemerkenswert ist, daß sich nun konservativer Terrorismus zeigt. Ein "christlicher Fundamentalist" ist Breivik seinem Manifest gemäß jedenfalls nicht - er scheint Katholizismus als gesellschaftliches Lametta und kulturelle Stütze zu sehen (seine Ansichten zum Gegenwartsprotestantismus entsprechen den hier in Folge des Kirchentages unlängst getätigten, die Ursprungsmission des Protestantismus hält er für vernünftig und für erreicht, weshalb die Kirchen sich wiedervereinigen sollten). Auch (Neo-)Nazi und Faschist kann man ihn guten Gewissens nicht nennen, eine Punkt-für-Punkt-Zurückweisung aller wesentlichen Ziele und Merkmale findet sich explizit und in Länge. Selbst "Nationalist" trifft es nicht wirklich: Die Diskussion ist weniger explizit, aber es ist durchgängig viel von "europäisch" und pan-europäisch" die Rede, die Nation oder das Volk kann man mit der Lupe suchen. "Xenophob/rassistisch" bliebe insofern gültig, wie man Religion mit Rasse gleichzusetzen gewillt ist. Am Islam lasst er kein gutes Haar, soviel ist klar. Für Hindus und Konfuzianismus findet sich offene Sympathie. Es gibt in seinem Manifest eine Reihe Vorlagen, die gewisse Personengruppen unter Eid auszufüllen hätten, eine Art Entnazifizierungsverfahren für Mitläufer, die dann Pardon erhalten sollen: Eines für jene systemnahen Kulturmarxisten die irregeleitet oder erpresst worden wären (für "nach der Revolution"); eines für Neonazis, die eigentlich keine Nazis sondern nur "dagegen", gegen den Kulturmarxismus, seien (eine Voraussetzung für deren Mitarbeit in seiner "Ritterschaft"), und eines für Muslime, die der Religion abschwören können und dann eine Art Bewährung erhalten (als Voraussetzung zum Verbleib in Europa "nach der Revolution")
Diese unbequemen Einsichten verstellt sich natürlich, wer aus Pietät nicht liest. Davon zu trennen ist die Frage nach Paranoia/Wahnsinn/Geistesgestörtheit angesichts der Fähigkeit fast hundert Jugendliche kaltblütig zu erschießen. Das mag im klinische Sinne vorliegen oder nicht, ich kann es nicht beurteilen. Fest steht jedenfalls, daß Breivik seinen Schilderungen zufolge sytematisch mit Drogen aller Art zunächst seine körperliche Leistungsfähigkeit (Anabolika etc) auf- und dann seine psychischen Hemmschwellen abgebaut hat, um diese Art Anschlag zu bewältigen. Offenbar war nach dem Parlament und der Insel sogar noch ein weiterer Akt fest und ein vierter (falls wider erwarten bis dahin alles problemlos lief) als "Bonus" geplant. Die Medikamentierung scheint derart extrem zu sein, daß Breivik davon ausging, ohne Behandlung (der er ja nun in Haft vermutlich hat) an den Folgen kurz- bis mittelfristig zu sterben, sollte er nicht im Zuge der Anschläge umkommen.
Das Manifest ist ganz außerordentlich clever zugeschnitten, selbst die mir schrecklich affig anmutenden und seltsam detailverlieben Angaben für Auszeichnungen, Prozeduren und Ränge dieser Ritterschaft erscheinen plötzlich logisch, wenn man betrachtet, daß hier eine Demografie spricht und angesprochen werden soll, in deren Referenzuniversum grade WOW und LOTR und die dort auftretenden Begrifflichkeiten und Akteure zentrale Gemeinplätze sind. Tolkienlektüre (as kulturconservative as is gets), dschihadistische Methoden als logischer Ausfluß des Gegenwartskonfliktumfeldes, Islamhaß, ob abstrakt und/oder durch persönliche Erfahrung mit Jugendgangs, eine gewisse Vertrautheit mit Militärischem durch Videospiele, Internetaffinität bei Informationsbeschaffung und -verbreitung und Genervtheit mit der Weltsicht der Alten und Lehrer (was man Gutmenschentum oder eben Kulturmarxismus/Multikuluralismus nennen mag): das haben sehr große Teile der europäischen Unterdreißigjährigen gemeinsam.
Das war jetzt alles etwas ungeordnet, aber mich beschleicht das Gefühl, daß hier mehr passiert ist, als nur ein Psychopath der ein Massaker anrichtet. Das wird Folgen haben, und daß "Personen und Parteien, die islamkritische oder was auch immer für Auffassungen vertreten, die auch dieser Irre in seinem 'Manifest' vertritt, [...] mit Verweis genau darauf bekämpft werden" scheint mir eine der milderen.
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