Man tut der Kanzlerin insofern Unrecht, als sie nur die Politik ihrer Vorgänger konsequent weiterverfolgt.
Mag es hier und da unter der Bevölkerung auch romantisierende Europa-Begeisterung geben und gegeben haben, so war "Europa" von Anfang an ein politisches Projekt der Eliten, in dem national gesinnte Politiker konkrete nationale Interessen vertreten haben. Im Kern bestand die Idee nach dem 2. Weltkrieg eben darin, Deutschlands erzwungenen Souveränitätsverzicht in einen freiwilligen umzuwandeln. Militärisch durch die NATO, wirtschaftlich durch EWG & Co., deren ständige Umbenennungen sich wohl auch die SED zum Vorbild genommen hat, politisch durch beide. Daher konnte nach dem Zerfall des Sowjetimperiums die sich dadurch abzeichnende Lösung der "deutschen Frage", die für Frankreich und Großbritannien die Geschäftsgrundlage zerstörte, nur durch einen noch weiterreichenden Souveränitätsverzicht rechtzeitig sichergestellt werden. Wie schon vorher auch, unterwarf sich Frankreich formal dem gleichen Verzicht, setzte aber darauf, durch seinen größeren Einfluss in Brüssel und - nach der für die Deutschen gedachten Beruhigungspille Duisenberg - dann auch in Frankfurt die Dinge schon in seiner Richtung geregelt zu kriegen.
Das Gejammer über die inzwischen vielfältigen Vertragsbrüche ist reichlich naiv, denn tatsächlich hat niemand daran gedacht, sich an diese Verträge auch halten zu müssen. Die "Maastricht-Kriterien" hatten nur die Funktion, den Eintritt in den Euro zu legitimieren. Ernst geprüft wurden sie nie, und sobald ein Land sie verletzte, gab es gleich Sonderregelungen. Und wenn ein Land dann doch mal in Schwierigkeiten geraten sollte, war klar, dass Deutschland mit seinen tiefen Taschen schon noch einspringen würde. Die Deutschen waren auch noch so brav, sich eine jahrelange interne Abwertung zuzumuten, damit sie weiter in der Lage blieben, für andere zu zahlen. Das sah nicht nur Frankreich so, das nahmen wie selbstverständlich auch die Märkte an.
Deswegen war ist auch die Kritik an Merkel wegen ihres Verhaltens in der Anfangsphase der Krise so groß: Mit ihren Äußerungen und Initiativen erweckte sie den Eindruck, als sei Deutschland eben nicht mehr bereit, bedingungslos für andere einzustehen. Damit war die europäische Geschäftsgrundlage ein weiteres Mal erschüttert. Und deswegen gibt es jetzt natürlich auch die Rufe nach weiterem Souveränitätsverzicht: Ein deutscher Kanzler, ein deutsches Verfassungsgericht und ein deutsches Parlament sollen nie wieder solche Bedingungen stellen dürfen.
Die Verselbständigung der "Rettungsschirme" in Form des nahezu beliebig zu hebelnden EFSF und des kommenden ESM ist ein Schritt in diese Richtung. -- L'État, c'est la grande fiction à travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre aux dépens de tout le monde. (Frédéric Bastiat)
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