Zitat von JeffDavis
Zitat von Zettel Meine alte Liebe, lieber Rayson, ist die Vernunft; oder sagen wir genauer: die skeptische Vernunft.
Skeptische Vernunft? Das sind doch nur die Vorurteile der Aufklärer... 
Eine Haltung skeptischer Vernunft, lieber JeffDavis - eine Haltung also in der Tradtition von Hume, Kant, Popper - unterscheidet sich von den meisten anderen philosophischen Haltungen darin, daß sie methodischen und nicht inhaltlichen Prinzipien verpflichtet ist:
Eben gerade keine Vorurteile haben; Behauptungen darauf prüfen, ob sie in sich schlüssig und durch die Fakten gerechtfertigt sind; nicht aus allgemeinen Glaubenssätzen kurzschlüssig konkrete Aussagen ableiten - das sind die Maximen.
Ich versuche, aus dieser Haltung heraus beispielsweise die Klima-Diskussion zu kommentieren und - aktuell - an den beiden hitzigen Diskussionen teilzunehmen, die im Augenblick hier im Forum laufen.
Ich kann nicht sehen, daß es einen einfachen Weg aus der Krise Euroas gäbe und daß man nur die Klassiker des Liberalismus anwenden muß, und alles wird gut.
Ich behaupte auch nicht, daß der jetzt eingeschlagene Weg der alleinseligmachende ist. Er scheint mir allerdings wohlüberlegt zu sein. Ich habe den Eindruck, daß man sorgfältig und professionell arbeitet; daß die Kanzlerin sich ihrer Verantwortung bewußt ist und versucht, ihr gerecht zu werden.
Ob es gut geht, weiß ich nicht. Ob eine radikal liberale Lösung gut gegangen wäre, weiß ich ebensowenig. Die skeptische Vernunft sagt mir, daß man das nicht wissen kann; nur educated guesses anstellen.
Aus meiner Sicht wären die Folgen eines Nicht-Eingreifen des Staats unkalkulierbar. Auch in den beiden großen Krisen der zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hat der Markt es letztlich geregelt; aber zu dem Preis, daß viele Menschen verarmt sind.
Meine Großeltern sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits haben damals alles verloren. Vestigia terrent.
Vielleicht ist die Haltung in der jetzigen Krise deshalb auch eine Generationsfrage. Wer wie ich von den Großeltern erzählt bekommen hat, wie es war, als die Wirtschaft zusammenkrachte, der möchte dieses Risiko doch lieber vermeiden; auch wenn es vielleicht nicht sehr groß ist.
Oder nehmen Sie den Islam. Ich sehe die Gefahren des Islamismus; ich schreibe ja immer wieder darüber. Ich sehe die Bedrohung Israels durch den Iran, durch die Hamas und die Hisbollah.
Ich sehe zweitens etwas, was damit nur wenig zu tun hat; nämlich eine demographische Entwicklung in Deutschland, die dazu führen wird, daß in wenigen Generationen ein erheblicher Teil der Deutschen Moslems sind. Wir Nichtmoslems müssen unsere christlich-abendländische Kultur, vor allem (aus meiner Sicht) die Kultur der Aufklärung, also der kritischen Vernunft, vor den Gefahren bewahren, die damit einhergehen.
Wir müssen unsere kulturelle Überlegenheit ausspielen und dazu beitragen, daß der Islam in Deutschland sich verwestlicht, daß er so liberal wird, daß er in diese Gesellschaft integriert werden kann.
Wir dürfen nicht auf den Islam starren wie das Kaninchen auf die Schlange und uns vor ihm fürchten. Wir dürfen ihn nicht dämonisieren, sondern müssen ihn als das sehen, was er ist: Eine (gegenwärtig noch) rückständige Religion, die es dringend nötig hat, endlich in der Moderne anzukommen. Dazu können wir gerade in Deutschland beitragen.
Mir ist diese Angst vor dem Islam nicht nachvollziehbar. Ich sehe darin einen seltsamen abendländischen Selbstzweifel. Wir sind dem Islam in jeder Hinsicht überlegen; bis auf eine: Was das Selbstbewußtsein angeht.
Sie sehen, lieber JeffDavis, wenn man die kritische Vernunft pflegt, dann ist der natürliche Platz, auf dem man sitzt, der zwischen den Stühlen. Ich fühle mich da ganz wohl. 
Herzlich, Zettel
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