Zitat von C.
Zitat von Zettel Wie kann man glauben, der Islam sei unveränderbar? Ich verstehe, wenn Dschihadisten das glauben. Daß es jemand im aufgeklärten Westen glaubt, das kann ich lieber Techniknörgler, nicht nachvollziehen.
Nichts wäre absurder,als anzunehmen, dass sich der Islam nicht verändert, da wir Zeitzeugen der islamischen Reformation sind. Nur fällt diese Reformation nicht so aus wie wir uns erhoffen, der Islam ist mit Qutb in der Modernen angekommen, bei den Schiiten war es Ali Shariati. Die islamische Revolution in Iran war ein Ausdruck dieser Reformation, Erdogan dürfte derzeit der bekannteste Vertreter sein. Die Geschwindigkeit ist atemberaubend, mit der sich der reformierte Islam etabliert.
Danke für diesen kundigen Beitrag, dear C.
Was du schilderst, das ist die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte; das, was ich als eine Gegenbewegung gegen die gescheiterten Modernisierungsversuche des Arabischen Sozialismus und des Schah in Persien beschrieben habe. Dadurch ist die islamistische Ideologie, die vor einem halben Jahrhundert die einer Sekte war, zu einer breiten Strömung geworden.
Die Frage ist, wie es weitergehen wird. Und da haben wir es, dear C., beide mit dem häßlichen Sachverhalt zu tun, daß wir nicht in die Zukunft blicken können.
Wenn ich dich recht verstehe, dann siehst du diesen jetzigen Trend weiter zunehmen (wie lange?).
Ich hingegen sehe, wie oft geschrieben, den Islamismus als eine der drei totalitären Bewegungen des Zwanzigsten Jahrhunderts. Die nationalsozialistische hat sich erledigt, die kommunistische existiert im Augenblick nur noch in fossiler Form in Ländern wie Cuba, Nordvietnam und Simbabwe (über China und Vietnam wäre getrennt zu diskutieren). Die islamistische hat später als die beiden anderen eingesetzt und ist noch längst nicht überwunden.
Die Gesellschaftsmodelle, die Herrschaftssysteme sind bis in die Einzelheiten identisch. Auch das habe ich schon oft geschrieben, aber offenbar nicht überzeugend genug. Entonces:
* Eine für alle Bürger verbindliche Staatsideologie - Nationalsozialismus, Marxismus-Leninismus, Islam
* Eine diktatorische Herrschaftsform. Ein Einparteiensystem. Gegner der Diktatur dürfen sich nicht organisieren und werden verfolgt. Es gibt keine freien Wahlen; allenfalls kann (wie im Iran der Ayatollahs) darauf Einfluß genommen werden, welcher der Vertreter des Regimes ein bestimmtes Amt innehat.
* Eine Durchdringung der Gesellschaft mit staatliche kontrollierten Organisationen, die auf dieser Ideologie basieren (Jugend-, Frauen-, Berufsorganisationen usw.).
* Die Kontrolle der Gesellschaft durch eine Geheimpolizei mit unbeschränkten Vollmachten. Es gibt ein Netz von Spitzeln und Denunzianten.
* Keine Rechtsstaatlichkeit. Urteile werden nach politischer Opportunität gesprochen; Prozesse gegen politische Gegner finden oft geheim statt. Die Todesstrafe ist gängig. Es gibt Spezialgefängnisse der jeweiligen Geheimpolizei, in denen gefoltert wird.
* Die Medien stehen unter der Kontrolle des Regimes. Sie sind größtenteils in staatlicher Hand; sofern privat, werden sie zensiert.
* Das Regime feiert sich selbst durch Aufmärsche, Massenveranstaltungen und dergleichen.
* Und vieles andere mehr.
Die Parallelen sind auch interessant, was die Genese dieser drei Arten von totalitären Systemen angeht. Du erwähnst Sayyid Qutb. Er und die anderen Begründer des Islamismus - Banna, Nabhani, Maududi in Pakistan und andere - waren wie Lenin, Hitler und Stalin freischwebende, radikale Intellektuelle und Sektierer. Der Unterschied ist allerdings, daß die Begründer des nationalsozialistischen und des kommunistischen Totalitarismus es selbst an die Macht schafften, während das denjenigen des islamistischen mit Ausnahme des Ayatollah Khomeini nicht vergönnt war.
Um noch einmal auf die Zukunft zu kommen: Wir können in sie nicht hineinblicken. Aber ich sehe keinen Grund, warum die islamistische Variante des Totalitarismus überlebensfähiger sein sollte als die beiden anderen. Sie alle waren und sind ein Phänomen beim Übergang in die Moderne; ein Phänomen wie, sagen wir, die Tyrannis in der italienischen Renaissance.
Das ist meine Vermutung. Eine Vorhersage ist es nicht. Du nennst die Islamisten "Reformer". Sie sind das so, wie Lenin Rußland und Hitler Deutschland reformiert hat.
Herzlich, Zettel
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