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Zettel
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31.10.2011 11:36 |
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Zitat von Rayson Allein daraus, dass es Veränderungen gegeben hat, lässt sich aber nicht schließen, dass es zu weiteren kommen kann.
Es läßt sich, lieber Rayson, daraus schließen, daß der Islam - wie alle Religionen - sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen wandeln kann. Ob und wie er das künftig tun wird, kann man nicht wissen, weil die Zukunft halt opak ist. Man kann nur begründete Vermutungen anstellen.
Was die Menschen glauben und was sie praktizieren, hängt nur zu einem geringen Teil von dem ab, was in den Heiligen Büchern steht und was von den Kanzeln oder in den Moscheen gepredigt wird. Die beiden christlichen Konfessionen mußten das schmerzlich erfahren. Es hängt zu einem erheblichen Teil davon ab, welchen kulturellen Einflüssen die Menschen unterliegen, welche Möglichkeiten ihnen die Gesellschaft bietet und welche Beschränkungen sie ihnen auferlegt.
Es ist ja nicht "das Christentum", das zu dem heutigen Zustand einer weitgehend laxen, wenn nicht überhaupt verschwindenden Religiosität geführt hat. Sondern es sind gesellschaftliche Bedingungen, unter denen die Religion aus vielen Gründen (die im einzelnen darzulegen wären) nicht mehr dieselbe Rolle spielt wie bis vor einigen Jahrhunderten.
Eine zentrale Rolle spielt die Religion nur in traditionellen Gesellschaften. In ihnen konnten und können sich strikte religiöse Vorschriften und Verbote durchsetzen.
Bereits in der Antike löste sich das erstmals auf. Die ionische Philosophie, die zum ersten Mal an die Stelle der Religion die Vernunft setzte, entstand in den griechischen Kolonien, in denen die Kulturen sich vermischten, in denen es keine festgefügten gesellschaftlichen Strukturen gab; die als Handelstützpunkte wissenschaftliche Neuerungen brauchten; zum Beispiel, um mit ihren Schiffen besser navigieren zu können.
Dasselbe kann man in der Spätantike sehen; dann wieder in Europa ab der Wende zum 17. Jahrhundert, vorbereitet in der Renaissance und im Humanismus.
Ich sehe, lieber Rayson, nicht, warum das, was für alle Religionen gilt, nicht auch für den Islam gelten soll.
Er war im Goldenen Zeitalter zwischen 800 und 1200 eine aufgeklärtere Religion als damals das Christentum; die Wissenschaften waren in Damaskus, Bagdad und Kairo damals freier als in Köln oder Paris. Aber dann driftete die Entwicklung auseinander: Der Islam fiel kulturell zurück, bis hin zu seinem heutigen desolaten Zustand. In Europa begann die Renaissance.
Jetzt, im Zeitalter der Globalisierung, hat der Islam eine gewaltigen Nachholbedarf. Er muß sich der Moderne anpassen, oder er wird endgültig zu einem Randphänomen verkommen. Ich halte das Letztere für gar nicht unwahrscheinlich. Was sich dem Fortschritt verweigert, das geht unter.
Daß - ich habe das zu erläutern versucht - als Folge des Scheiterns des Arabischen Sozialismus und aus anderen Gründen im Augenblick in den arabischen Ländern eine Retro-Welle zu beobachten ist, sollte man nicht falsch verstehen. Auch in Europa ist jeder Schritt der Modernisierung von solchen "Rückbesinnungen" begleitet worden; von der Romantik über die Deutschtümelei des Turnvaters Jahn bis zum Germanenkult der Nazis.
Und nicht zuletzt ist auch in vielen Ländern Europas der Weg in die moderne, demokratische Gesellschaft über die Übergangsstufe des Totalitarismus gegangen. Wenn alte Strukturen sich überlebt haben und zusammenbrachen oder zerstört wurden, dann besteht immer die totalitäre Gefahr; die französische Revolution hat das beispielhaft gezeigt.
Herzlich, Zettel
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