Die Frage einer möglichen europäischen Zielstruktur hat m. E. zwei wesentliche Aspekte: Einerseits die reine Organisation von verschiedenen Staaten und Sprachen - da sind 27 Staaten mit 23 Sprachen natürlich schwieriger zu strukturieren als 6 Staaten mit 4 Sprachen, aber das Grundproblem ist das gleiche. Zu diesem Thema werde ich vielleicht getrennt etwas schreiben. Und andererseits die Frage der inhaltlichen Gemeinsamkeit, insbesondere die gemeinsame Geschichte und Kultur. Und diese Gemeinsamkeit wird natürlich wichtiger, je mehr Zusammenschluß man anstrebt.
Und da bin ich nicht glücklich, lieber Zettel, mit Ihrem Bezug auf die Karolinger. Natürlich fällt das erst einmal ins Auge, daß die Ursprungs-EU geographisch halbwegs auf das Reich Karls des Großen paßt. Aber trotzdem war das nicht die historische Epoche, in der das christliche Abendland entscheidend gegründet wurde.
Erst einmal: Wenn man sich schon auf die Karolinger bezieht, dann gehören natürlich auch die Schweiz, Österreich und Slowenien dazu. Und dazu die spanische Mark als Kern von Spanien und Portugal - diese beide Staaten stehen genauso in dieser Tradition wie Ost- und Norddeutschland, die ja zu Karls Zeiten noch genauso zu erobern/besiedeln anstanden wie der Rest der iberischen Halbinsel.
Und zweitens: Nach dem Karolingerreich kommt ja erst einmal ein großer Einbruch. Die Raub- und Eroberungszüge von Arabern, Wikingern und Ungarn haben die diversen Nachfolgeregionen dieses Reichs ja fast komplett zerlegt. Die echte, gemeinsame historische Kontinuität fängt erst danach an - als die Angelsachsen, die Kapetinger, die Ottonen und die spanischen Herrscher jeweils ihren Teil zur Abwehr der Angreifer getan hatten und sich danach im Hochmittelalter das "christliche Abendland" formierte.
Das ist das Abendland, das sich an Kaiser und Papst orientierte. Obwohl es machtpolitisch sekundär war, haben ja alle Königreiche dieses christlichen Europas das Primat des römisch-deutschen Kaisers anerkannt. Sie teilten alle den katholischen Glauben. Es gab eine gemeinsame Bildungswelt von Uppsala bis Toledo, von St. Andrews bis Bologna, mit Latein als gemeinsamer Sprache. Dieses Abendland erlebte gemeinsam Scholastik, Renaissance und Aufklärung. Und dieses Europa hatte eine "gemeinsame Außenpolitik" - die Reconquista war genauso eine gesamteuropäische Aufgabe wie die Kreuzzüge im heiligen Land oder im Baltikum es waren. Innerhalb Europas gab es über Jahrhunderte fast nur Bürgerkriege innerhalb der Königreiche, fast nie Kriege zwischen den Völkern.
Konstitutiv für dieses Europa war weniger Karl der Große als Otto der Große. Er hat Böhmen, Polen und Ungarn dauerhaft eingebunden, sie sind seitdem integraler Bestandteil jeder Konzeption von Europa. Man kann ja noch diskutieren, ob England wirklich dazu gehört - aber Polen gehört dazu wie Holland oder das Elsaß. Ein Europa ohne Prag, Krakau oder Budapest geht genauso wenig wie eines ohne Brüssel oder Mailand. Es tut mir fast weh, wenn eine europäische Idee auch nur formuliert wird, bei der ein Land wie Polen fehlen soll.
Wenn es also um irgendeine historische oder kulturelle Abgrenzung Europas geht, dann sind m. E. neben dem 6-er Kern der alten EU die britischen Inseln, Skandinavien, das Baltikum, Mitteleuropa (also Polen, Tschechei, Slowakei), die iberische Halbinsel und Ungarn/Kroatien auf jeden Fall dabei.
Problematisch wird es erst da, wo der Bereich der orthodoxen Kirche anfängt - die war nie Teil der mittelalterlichen Gemeinschaft, hat die Aufklärung nicht mitgemacht, ist erst in ganz moderner Zeit dazu gestoßen.
Natürlich ist Rußland nun schon über drei Jahrhunderte ein Teil der europäischen Völkergemeinschaft - aber in die historisch/kulturellen Gemeinsamkeiten war es nie gut integriert. Und das gilt ähnlich für die Balkanvölker von Serbien bis Griechenland. Die können vielleicht bei einer europäischen Integration mitmachen, falls das eigentliche Europa funktionsfähige Strukturen entwickelt hat - aber naheliegend ist das nicht.
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