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Im übrigen: Ist die Verflechtung wirklich so beispiellos? Ich habe da meine Zweifel, denn - gemessen an der jeweiligen Bevölkerungszahl und der Wirtschaftskraft - gab es früher auch schon eine erhebliche Verflechtung.
Spannende Frage. Und wahrscheinlich sehr schwer zu beantworten.
Um das thematisch einzugrenzen, lasse ich einmal die von Ihnen angesprochenen kulturellen Verflechtungen (Ihre Beispiele Adlige, ital. Musiker, etc.) außer Betracht und konzentriere mich erst einmal auf die wirtschaftliche Verflechtung.
Da ergibt sich folgendes Bild:
Im Mittelalter war die wirtschaftliche Verflechtung sicher WESENTLICH geringer als heutzutage. Dies erscheint logisch zwingend mit folgender Begründung: Bis zur Industrialisierung war in allen Ländern der dominierende Wirtschaftszweig die Landwirtschaft. Abgesehen von einigen wenigen Stadtstaaten wird die Landwirtschaft wahrscheinlich immer sehr weit über 50% der Wirtschaftsleistung ausgemacht haben. Nun gab es zwar in begrenztem Umfang auch einen überregionalen Handel mit Lebensmitteln (z.B. der Heringshandel der Hanse), aber der größte Teil des Handelsvolumens wird sicher auch im Mittelalter Rohstoffe (wie Metalle) und handwerkliche Erzeugnisse (wie Tuch) gewesen sein. Einfach deshalb, weil Lebensmittel leicht verderblich sind und weil außerdem der (damals oft recht mühsame) Transport sich v.a. bei Gütern mit hohem Wert pro Gewichtseinheit lohnt. Allein schon wegen des damals höheren Gewichts der Landwirtschaft wird der überregionale Handel weniger bedeutend gewesen sein als heutzutage.
Hinzu kommen die Zollschranken, die im Mittelalter existierten und die im Laufe der frühen Neuzeit m.W. noch deutlich zunahmen (einerseits wegen der mitteleuropäischen Kleinstaaterei, andererseits wegen merkantilistischer Überlegungen).
Auch wenn ich keine konkreten Zahlen habe: Ich bin mir SEHR sicher, dass im Mittelalter der überregionale Handel in % des BIP deutlich niedriger war als heutzutage.
Anders sieht es vielleicht nach Beginn der Industrialisierung aus. Die wirtschaftliche Verflechtung war im späten 19. Jahrhundert m.W. schon sehr stark ausgeprägt, ging dann in der Zwischenkriegszeit deutlich zurück und nahm dann nach 1945 wieder zu. Das Niveau des Jahres 1900 wurde aber wohl lange nicht mehr erreicht.
Zur Entkräftung meiner eigenen obigen These ("Handel schafft Friede") fällt mir übrigens noch folgendes ein: Es gab Anfang des 20. Jahrhunderts ein sehr einflußreiches Buch (der Titel ist mir leider gerade entfallen), in dem arguemntiert wurde, dass Kriege in Europa unmöglich geworden seien, weil aufgrund der starken wirtschaftlichen Verflechtung alle Länder unter einem Krieg leiden würden. Selbst die siegreichen Länder würden durch einen Krieg, der ihren Handel stört, ärmer. Wie wir heute wissen, hatte der Autor die Lage einerseits absolut richtig analysiert. Nur leider kam es trotzdem zum Weltkrieg, obwohl dem "eigentlich" die Interessen aller Nationen entgegen gestanden hatten.
Auch wenn ich mit meiner obigen Argumentation recht habe (und ich bin sicher, das habe ich: die europäische Integration ist für alle Länder ein großer Wohlstandsgewinn), bedeutet das noch lange nicht, dass es keine Konflikte geben kann. Natürlich kann z.B. ein Land X Zugeständnisse zu erpressen versuchen in der Erwartung, dass die anderen Länder im eigenen Interesse schon nachgeben werden. Und wenn alle so denken, dann kann es ggf. zu einem Zerwürfnis kommen, das letztlich alle schlechter stellt.
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