Zitat von R.A. Das schwache deutsche Selbstbewußtsein ist tief verwurzelt, die Nazi-Zeit bzw. der Umgang damit ist nur der aktuelle Aufhänger. Vielleicht ist dies ein Reflex schon aus den Anfangszeiten deutscher Nationalgeschichte, als unseren Vorfahren immer bewußt war, daß sie bei aller militärischen und politischen Stärke kulturell immer zweitklassig waren gegenüber den unterworfenen Römern. Das ist aber eine rein private Spekulation von mir, es gibt dazu m. W. keine Forschung.
Hm. Hat sich denn in den paar Jahren zwischen 800 und 1800 ein "Bewußtsein kultureller Zweitklassigkeit" irgendwo durchgehend geäußert? Zumal selbst wenn es so war, daß anfangs aufgrund dort vorhandener altrömischer Restbestände noch ein kulturelles Gefälle von Süden und Westen her bestand, auf der anderen Seite dieses sich nach Osten hin ja fortsetzte; dort war die deutsche Kultur das ganze Mittelalter hindurch ihrerseits die überlegene, die übernommen bzw. nachgeahmt wurde. Irgendwann aber war das doch in beiden Richtungen einigermaßen nivelliert. Ich würde eher vermuten, daß die Deutschen sich mit der über Jahrhunderte eingenommenen Sonderrolle des römischdeutschen Kaisers als "Haupt der Christenheit", also Europas, und Träger einer als legitim empfundenen übernationalen Ordnung am Ende doch identifiziert hatten; was ein ausgeprägtes eigenes Nationalbewußtsein - verstanden als Abgrenzung gegenüber dem Rest Europas - lange Zeit schlicht entbehrlich und für die angenommene eigene Rolle sogar eher hinderlich erscheinen ließ. Um dann irgendwann recht plötzlich festzustellen, daß diese überkommene Ordnung von niemandem mehr respektiert wurde, daß man aus Anhänglichkeit an eine uralte Idee versäumt hatte, selbst Nationalstaat zu werden, während ringsum die Nachbarn sich zu solchen entwickelt hatten, die Akquise entsprechender Machtmittel eingeschlossen. Und die nächsten 150 Jahre füllt dann der Versuch, den aufgetretenen Zwiespalt zwischen dem über Jahrhunderte verinnerlichen Selbstbild als zumindest nominales Oberhaupt einer europäischen "Völkerfamilie" und der zirka Bonaparte drastisch erfahrenen völligen Machtlosigkeit irgendwie wieder zu schließen.
Zitat von R.A. Auf jeden Fall gibt es schon seit vielen Generationen diesen Dualismus, wie mit dem schwachen Selbstwertgefühl umgegangen wird: Einerseits das hier diskutierte Defizit bei der nationalen Identifikation und die Orientierung an ausländischen Vorbildern. Und andererseits ein völlig übersteigertes "am deutschen Wesen soll die Welt genesen".
Das eine und das, was das andere eigentlich meint, muß kein Gegensatz sein. Das ubiquitäre nicht ganz wörtliche Geibel-Zitat tut dem Autor durchaus unrecht. Im Original heißt es nämlich: es mag einmal am deutschen Wesen... eher im Sinne von könnte vielleicht. Das ganze Gedicht bringt m.E. gerade keine chauvinistische Anmaßung zum Ausdruck, sondern die aus der Beschäftigung der Romantik mit dem Mittelalter herrührende etwas schwärmerische Sehnsucht nach der alten, der gerechten übernationalen Ordnung. Mit den Deutschen als Ordnungsmacht, das ja. Aber das solchermaßen idealisierte "deutsche Wesen" ist hier nicht ein aggressiver Egoismus auf einer Ebene mit (und in Konkurrenz zu) dem der Nachbarn, sondern das eines ausgleichenden Schiedsrichters zum allgemeinen Frieden:
Zitat von Emanuel Geibel Deutschlands Beruf (1861) Oder wollt ihr mit den Waffen Endlich Rast und Frieden schaffen? (...) Macht Europas Herz gesunden, Und das Heil ist euch gefunden. (...) Sucht zum Lenken und zum Schlichten Eine schwerterprobte Hand, (...) Macht und Freiheit, Recht und Sitte, Klarer Geist und scharfer Hieb, Zügeln dann aus starker Mitte Jeder Selbstsucht wilden Trieb, Und es mag am deutschen Wesen Einmal noch die Welt genesen.
Wenn man sich das so vor Augen führt, mag man sich fragen, ob nicht sogar beim Umgang mit der gegenwärtigen "Eurokrise" (den Protagonisten ganz unbewußt) sehr alte Wurzeln der deutschen Geschichte ein letztes Mal an die Oberfläche treten.
____________________________________________________ "I want my republic back!"
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