Lieber Zettel,
ich halte von dieser Art Nabelschauen recht wenig, da übertragen offensichtlich orientierungslos gewordene Publizisten die Leere ihrer Gedanken auf ihre Generation. Vielleicht liegt es ja auch nur an der Berufswahl, wer in einem technischen oder naturwissenschaftlichen Bereich arbeitet hat vielleicht etwas festeren Boden unter den Füßen. Ich decke mit meinen Geschwistern (und damit Schwagern, Bekanntenkreisen) die Geburtsjahrgänge 1950 bis 1970 ab (die Eltern waren immer dieselben) und kann Schirrmachers Nabelschau aus persönlicher Erfahrung nicht bestätigen. Abgesehen davon scheint Schirrmacher entgangen zu sein, dass ein bekannter spektakulärer Fall des Vom-Acker-Machens, ein Herr Lafontaine, nicht gerade in seine Kategorie 'Babyboomer' passt.
Ob Konsumgesellschaft oder nicht, wenn ich ein Merkmal nennen müsste, das sich in den letzten 50 Jahren verändert hat, dann ist es der Verlust klarer, überschaubarer Strukturen, die nun einer großen Beliebigkeit Platz gemacht haben. Und sicher waren es die 68er, die diesen Weg eingeleitet/forciert haben, und Nachfolgegeneration, die das begierig aufgenommen hat. Nun beschleichen einige dieser Repräsentanten die Zweifel, ob das denn alles so gut ist: Zerfallende Familienstrukturen, im Rampenlicht stehendes Führungspersonal, das Ehefrauen schon fast im regelmäßigen Zyklus durch neue ersetzt, und vielleicht tatsächlich auch Führungspersonal, das sich nach Erreichen von Versorgungsansprüchen schnell aus dem Staub macht, Wulff's Scheitern war ja wohl der Anlass des Beitrags. Und zu allem wurde die jeweils passende Rethorik geliefert. Also einfach ein moralischer Zerfall, der so langsam ins Bewusstsein dringt, gepaart mit dem Gefühl der Ohnmacht, dies irgendwie wieder korrigieren zu können?
Natürlich experimentiert man kontinuierlich an den Symptomen, vergrößert aber nur die Orientierungslosigkeit. Das Ausbildungssystem ist ein ganz gutes Beispiel. Wer politisch kann, versucht dort zu verschlimmbessern, was nur geht. Lehnt man sich aber mal zurück und stellt die Frage, aus welchem Schulsystem heraus die Grundlagen unseres heutigen Wohlstands geschaffen wurden, man müsste eigentlich an dem ganzen Aktionismus zweifeln. Und wenn sich etwas ältere Lehrer der Baby-Boomer-Generation aus dem chaotischen System so früh wie möglich verabschieden, dann würde ich den Grund nicht unbedingt in deren schlechter Arbeitsmoral suchen.
Gruß, Martin
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