Die vom Verfassungsrat vorgeschlagene Abstimmung entspricht ganz sicher nicht den Standards, die man an einen liberalen, religiös neutralen und demokratischen Staat stellen muss. Und wäre ich Ägypter, stünde ich ganz sicher auch auf der Straße um dagegen zu protestieren.
Aus der Außensicht sehe ich die Lage aber deutlich gelassener als anscheinend die meisten hier. Sicherlich nicht, weil ich ein Anhänger der Muslimbrüderschaft bin oder Mursis demokratischen Äußerungen vertraue, sonder weil ich weiß, dass auch die Muslimbrüder realpolitischen Zwängen ausgeliefert sind. Und im Gegensatz zu den Salafisten handelt es sich bei den Muslimbrüdern größtenteils um Realisten, wenn auch natürlich machtbewusste.
Ich schätze die aktuelle Situation in Ägypten so ein, dass Mursi und die Muslimbrüder das momentane Machtvakuum auszunutzen, welches durch die gegenseitge Blockade der Staatsorgane entstanden ist, um eine ihnen möglichst genehme Verfassung durchzudrücken. Ich habe aber auch den Eindruck, dass sie ihre Stärke und ihren Rückhalt in der Bevölkerung überschätzen.
Hehre Worte in der Verfassung sind schön und gut, aber Papier ist geduldig und entscheidend ist deshalb letztlich in erster Linie die politische Praxis. Dass der Staat mit religiöser Begründung ins Privatleben der Bürger hineinregieren will muss für jeden aufgeklärten Menschen ein Unding sein, aber viel wichtiger ist, ob Ägyptens Bevölkerung in Zukunft die Möglichkeit hat, die Regierung friedlich über die Wahlurnen auszutauschen.
Die Ähnlichkeiten mit kommunistischen Machtergreifungen oder mit der Kaperung der iranischen Revolution durch die Ayatollahs lassen zwar auch für diesen Punkt Sorgen aufkommen, allerdings ist Ägypten in einer völlig anderen Situation. Kommunistische Regime hatten mit der Sowjetunion einen starken Partner, auf dessen wirtschaftliche und militärische Unterstützung sie sich verlassen konnten. Für Russland selber galt dies natürlich nicht, aber Russland ist eines der wenigen Länder der Welt, die groß genug sind, um eine weitgehend autarke Wirtschaft zu unterhalten. Und auch die Installation der Islamischen Republik im Iran fand selbstverständlich unter dem Hintergrund des kalten Krieges statt, welcher die Einflussmöglichkeiten der USA zumindest teilweise begrenzt hat.
Heute hingegen leben wir aber – vielen voreiligen Nachrufen auf die Supermachtstellung der USA zum Trotz – in einer von der USA als Hegemonialmacht dominierten Welt, wobei Ägypten ganz besonders auf die (wirtschaftliche) Unterstützung der USA angewiesen ist. Die Handlungsmöglichkeiten der Islamisten sind dadurch in vielen Bereichen beschränkt. Zwar haben die Vereinigten Staaten ein starkes Interesse an Stabilität im Mittleren Osten – was für Ägypten als einer der größten und stärksten Staaten dieser Region ganz besonders gilt – weshalb sie Mursi wegen seiner bisherigen Aktionen noch nicht den Geldhahn abdrehen werden. Ob dies auch für die Einrichtung einer islamischen Diktatur gelten würde, bezweifle ich jedoch stark.
Ohne amerikanische Finanzhilfen aber würde Ägyptens Wirtschaft zusammenbrechen. Und auch die Muslimbrüder wissen, dass die wirtschaftliche Entwicklung für den allergrößten Teil der Ägypter ein viel wichtigerer Punkt ist, als Bürgerrechte oder Religion. Schließlich war die Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Stagnation stärkster Auslöser für den arabischen Frühling, und nicht in erster Linie der Wunsch nach bürgerlichen Freiheiten, auf den wir uns im Westen auf Grund unserer kulturellen und historischen Prägung manchmal vorschnell fokussieren.
Der wichtigste Punkt ist aber, dass ich glaube, dass die Muslimbrüder momentan in demokratischen Wahlen für sich keine große Gefahr sehen. Zwar geben die Wahlergebnisse der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen keine absolute Mehrheit für die Islamisten in der Bevölkerung her, aber wer glaubt im Besitz der allein selig machenden Wahrheit zu sein, redet sich leicht ein, dass es ihm gelingen wird, auch den Rest der Bevölkerung davon zu überzeugen, wenn man ihm nur die Möglichkeit dazu gibt. Dazu kommt, dass die Muslimbrüderschaft zumindest kurzzeitig von den inneren Kämpfen unter den Salafisten profitieren wird.
Wer sich aber die wirtschaftlichen Vorstellungen der Muslimbrüderschaft anschaut, erkennt schnell, dass auf diese Art und Weise der wirtschaftliche Aufschwung nicht zu erreichen sein wird. Ohne diesen wird jedoch der derzeit noch vorhandene Rückhalt der Islamisten in der Bevölkerung zusammenschmelzen, was einer geeinten Opposition aus Anhängern des alten Regimes und Liberalen bzw. Säkularen eine realistische Chance gibt, spätestens nach einer Legislaturperiode eine Mehrheit zu holen. Zumal das Beispiel Iran zeigt, dass die Menschen den vermeintlichen Segnungen eines islamischen Staates wesentlich kritischer gegenüberstehen, wenn sie diese erst Mal real erfahren haben. Und auch die islamistischen Einschränkungen in der derzeitigen Verfassung werden in diesem Fall nicht viel bewirken. Denn dadurch, dass sie jetzt die Verfassung durchpauken, sorgen die Islamisten gleichzeitig dafür, dass dieser Verfassung die nötige Legitimität fehlt um solche Punkte dauerhaft unangreifbar zu machen.
Wie immer in der Politik handelt es sich bei meinem Geschrieben natürlich nur um begründete Spekulationen und nicht um Ereignisse, von denen ich weiß, dass sie zweifelsfrei eintreffen werden. Schließlich bin ich kein Hellseher. Aber für mich sind das gute Gründe um für übermäßigen Pessimismus in Bezug auf Ägypten und den Nahen Osten noch keinen Anlass zu sehen.
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