Zitat von Zettel im Beitrag #24Die meisten Franzosen - nach meinen Stichproben über die Jahrzehnte hinweg - sehen das Hexagone als durch natürliche Grenzen gegeben; sie sehen - Bonaparte ausgenommen - Frankreich als ein defensives Land, das sich dreimal preußisch-deutscher Invasion erwehren mußte.
So schafft sich halt jedes Volk seine Mythen. Das späte 19. Jahrhundert war ja generell die Zeit, in der sich die europäischen Völker ihre Weltsicht zurecht gelegt haben. Mit oft sehr eigenwilligen Interpretationen der Vergangenheit. Auch die deutsche Geschichtsschreibung hat damals eine sehr spezielle Sicht auf die deutsche Geschichte erfunden. Die ist aber - im Gegensatz zu den meisten anderen Völkern - 1945 ziemlich abgeräumt worden und durch neue Mythen ersetzt worden.
Daß der französische Mythos alle Jahrhunderte vor Bonaparte großzügig ausblendet ist die eine Sache. Aber viel krasser ist die Sicht, dreimal angegriffen worden zu sein. Das stimmt natürlich für den zweiten Weltkrieg (obwohl auch da Frankreich den Krieg erklärt hat), für den ersten Weltkrieg ist die Schuldfrage bekanntermaßen umstritten. Aber für den 70/71er Krieg ist diese Sicht natürlich absurd. Natürlich hat Bismarck ihn etwas provoziert - aber es war Frankreich, daß die Expansion suchte. Napoleon III wollte Luxemburg und Gebiete in Süddeutschland (nebenbei: östlich des Rheins!), er erklärte den Krieg. Und die Franzosen waren der festen Erwartung, die Preußen ohne Mühe besiegen zu können. Daß das dann nach hinten losging - dumm gelaufen. Und hat das französische Weltbild ähnlich heftig verändert wie die Katastrophe von 1945 das deutsche.
Zitat Die französische Mentalität ist generell die des Verteidigens.
Aber eben erst seit 1871, verstärkt durch die Fast-Niederlage 1914. Und um den Bogen zum Thema zurück zu bekommen: Nur weil die Franzosen ihre Mentalität damals so grundlegend geändert haben, und die Deutschen nach 1945 ebenfalls umdenken mußten - nur deswegen wurde der Élysée-Vertrag möglich.
Übrigens wollte ich mit meiner Darstellung, daß Frankreich historisch fast nur Angriffskriege und Deutschland fast nur Verteidigungskriege geführt hat, keinerlei moralische Wertung implizieren. Denn das französische Vorgehen bis 1870 war völlig normal und im Kontext der Zeit legitim. Jede Macht versuchte zu expandieren, Sie haben ja zu Recht die Habsburger und die Hohenzollern genannt.
Und umgekehrt bezieht sich das mit dem rein defensiven auch nicht auf "die Deutschen", die in Form ihrer Einzelstaaten genauso fröhlich (Angriffs-)Kriege geführt haben. Sondern nur auf das Reich insgesamt.
Dieses Reich hat seit dem Mittelalter überhaupt über Jahrhunderte keinen Krieg führen müssen. Denn es war viel zu stark, als daß irgendjemand versucht hätte, es anzugreifen. Und zu friedlich (bzw. auch zu komplex strukturiert), um selber irgendwo zu attackieren. Wenn ausländische Mächte in Deutschland kämpften (insbesondere im 30-jährigen Krieg), dann als Verbündete in einem deutschen Bürgerkrieg, nie als Invasoren. Erst nach vielen Jahrhunderten tauchten mit Louis XIV und den Türken äußere Feinde auf. Zu deren Abwehr die Reichsorganisation erstaunliche Mittel mobilisieren konnte - weitgehend ja auch erfolgreich. Aber das war immer nur die Abwehr einer akut drohenden miltitärischen Gefahr. Ansonsten blieb das Reich passiv, es betrieb eigentlich überhaupt keine Außenpolitik, versuchte nirgends seine Interessen in Europa durchzusetzen oder zu erweitern - es war sich selbst genug.
Und von dieser Mentalität ist uns noch sehr viel geblieben. Die Deutschen haben zwar (von Preußen) eine gewisse militärische Tradition. Aber überhaupt keine außenpolitische. Eigentlich gehen die Deutschen immer noch davon aus, daß es überall so läuft wie von zu Hause gewöhnt. Daß man Konflikte mit überregionalen Gerichten löst (daher diese unglaublich naive UN-Gläubigkeit). Daß das Völkerrecht quasi vor einem Verwaltungsgericht eingeklagt und entschieden werden kann. Gerade durch die deutsch-französische Aussöhnung und die europäische Einigung wurde die kurze Zwischenphase, in der Deutschland wirklich Gegner an seinen Grenzen hatte, wieder beendet. Wir leben jetzt wieder so, wie das unsere Vorfahren gewohnt waren: Mitten drin, von niemandem bedroht, wir widmen uns unseren religiösen Themen und es reicht uns, von den Querelen der Welt in der Zeitung zu lesen.
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