Eine juristisch interpretierte Verfassung, verstanden als geschriebenes, ja mehr noch, selbst gegenüber einer Legislative gerichtlich einklagbare Gesetz höherer Ordnung, gilt gemeinhin vielen Liberalen in Ländern mit einer solchen Tradition als (möglicher) Garant und Schutz individueller Freiheiten und Prinzipien des Liberalismus. Das dies nicht der Fall seien muss, das eine einklagbare Verfassung auch von anderen Prinzipien geprägt oder in anderem Sinne interpretiert werden kann, ist den meisten klar.
In diesem Artikel argumentiere ich, dass eine als obersten Gesetzestext dem Primat der gerichtlichen Auslegung unterworfene Verfassung sogar kontraproduktiv für eine Verankerung liberaler Prinzipien seien kann.
Ein Gedanke, der mit Vorsicht zu genießen ist, würde doch auch die SED eine solche Politisierung ("Primat der Politik") befürworten, die scheinbar keine Grenzen und Bindungen kennt, außer den politischen Launen einer Avantgarde. Doch steht dieser kommunistische Wunschtraum vor dem (angestrebten) Hintergrund einer kompletten Kontrolle des Staatswesen und des Informationsflusses, der öffentlichen Debatte und der Medien.
Länder wie die Schweiz oder den Niederlanden zeigen deutlich auf, das es soweit erst gar nicht kommen muss. Wenn es dagegen soweit kommt, hilft auch eine geschriebene, auf dem Papier als einklagbares Gesetz ausgestaltete Verfassung nicht mehr, wie die Geschichte immer wieder gezeigt hat.
In der Schweiz und den Niederlanden ist ein "Primat des Rechts" gegenüber der Politik nämlich grundsätzlich kulturell verankert und in der politischen Kultur weitestgehend akzeptiert. Nur ist die Interpretation, was den Gesetzgeber bindende Normen darstellen und wie sie konkret und richtig in positives Recht gegossen werden sollen, nicht primär den Gerichten anvertraut, sondern in den Niederlanden dem Parlament (und sogenannten Staatsräten, die zur Vereinbarkeit mit der geschriebenen Verfassung Gutachten erstellen) und in der Schweiz direkt dem Volk in direktdemokratischen Prozessen anvertraut. Höchstens Kompetenzstreitigkeiten, ob ein Gesetz formal korrekt in der richtigen Weiße zustande gekommen ist, beispielsweise ob es einem obligatorischen Referendum unterliegt, fallen in die Zuständigkeit der Gerichte, denn zu der Aufgabe Gesetze auszulegen gehört natürlich auch die Aufgabe festzustellen, was überhaupt zu diesen Gesetzen gehört, die es auszulegen gilt. ______________________________________________________________________________
“Being right too soon is socially unacceptable.” ― Robert A. Heinlein
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