Zu den Anfängen des Christentums gab es, so hab ichs gelesen, eine christliche Gemeinschaft gab, die Judas tatsächlich als eine Heiligen verehrt hat. Stichwort "Judasevangelium". Auch ich kann den Gedanken nachvollziehen, wieso man Judas als eine positive oder doch zumindest neutrale Figur sehen kann, schließlich hat er dazu beigetragen, dass sich "die Schrift erfüllt". Er kann also abstrakt betrachtet als eine Art Werkzeug Gottes zu Erfüllung seines göttlichen Heilsplans betrachtet werden.
Auf eine bestimmte Weise erschien mir der Gedanke sehr plausibel auch auch irgendwie sympathisch, bis mir folgender Gedanke kam. Welche Botschaft würde man damit eigentlich vermitteln? Man würde Judas auf seine Rolle als "Instrument Gottes" reduzieren und man würde seine an sich schlechte Tat zu einer guten Tat machen, weil sie im Rahmen des göttlichen Heilsplans geschah. Doch genau das tat das Christentum, zumindest in der Form in der es sich dann durchgesetzt hat, nicht. Es bleibt beim Freien Willen und dem sich selbst entscheidenden Individuum. Judas wird also von seinem schlechten Gewissen geplagt, weil er schlechtes getan hat. Was wäre auch die Alternative gewäsen? Schlechte Taten gutzuheißen, solange sie im Rahmen des "göttlichen Planes" passierten? Das wäre ein Beispie, das vielen unmoralischen Menschen später sehr willkommen gewesen wäre, um sich darauf zu berufen. In der Weltgeschichte hat es ja auch ohne so ein Beispiel genug Leute gegeben, die sich auf die Religion berufend über jede Moral und jedes Gesetz stellen wollen. Dabei bietet das Neue Testament dafür nun wirklich nur wenige vorlagen. Wenn Judas also wegen seiner Tat verurteilt wird und sich vielleicht sogar selbst verurteilt und richtet, dann sieht es so aus, als behalte die Lehre vom Freien Willen und der Verantwortung für seine Taten die Oberhand.
Aber was hat es denn damit aufsicht, dass Jesus (die Darstellung weicht wohl zwischen den Evangelien ab) bereits im Voraus wusste, wer ihn verraten würde? Hier ergibt sich ein Mysterium. Für den Gläubigen ist es das Mysterium der göttlichen Vorsehung, die den Freien Willen nicht ausschließt, sondern erlaubt. Für den Ungläubigen dagegen dürfte dieses Mysterium vergleichsweise uninteressant sein, es sei denn er will es frei nach Nietzsche (beim Stichwort Nihilismus und Christentum scheint mir die Bezugnahme auf diesen Autor fast schon zu klischeehaft, um sie zu vermeiden) auf einer tiefenpsychologischen Ebene analysieren. Aus dieser Perspektive wäre die interessante, vielleicht sogar relevante Frage, wieso das junge Christentum dieses Stück des Freien Willens gegen das Schicksal in Schutz nehmen wollte. Wieso brauchte es überhaupt einen "Sündenbock", wenn man doch die Sünde selbst hätte abschaffen können? Ein nüchterner Historiker würde sich vielleicht auf die Feststellung beschränken, dass das frühe Christentum die Schuld eben nicht bei den Römern abladen konnte, auf deren Wohlgefallen war man ja angewiesen. Zumindest konnten das nicht die Teile des Christentums, die später Staatsreligion im römischen Reich wurden.
Die Feststellung am Ende des Textes, es sei ein Alleinstellungsmerkmal des Christentums, einen einsamen, verlassenen, mit seinem Schicksal hadernden Gott zu kennen, hat mich beschäftigt. Ist der Mythos des Herkules vergleichbar? Jedenfalls nicht sehr. Dionysos? Bei der Vielzahl an Mythologie würde ich mich ungern festlegen wollen.
Nehmen wir an es wäre so. Was würde es dann über die "christliche Kultur" aussagen?
|