Zitat von Florian im Beitrag #72 Deutschland ist hier aber doch m.E. ein Sonderfall.
Das ist richtig. Aber Deutschland ist doch IMMER ein Sonderfall in Europa. Die Größe, die Lage, die Geschichte, die politischen Traditionen ... Bei uns waren die beiden "Volksparteien" immer dominanter als in fast allen anderen Staaten, die liberale Tradition ist vergleichsweise schwach, die Neigung zu politischer Romantik und Irrationalität immer sehr stark (deswegen sind die Grünen auch in Deutschland entstanden und sind nirgends sonst so stark), alles ab konservativ steht unter Nazi-Verdacht und das singuläre Ereignis "Wiedervereinigung" hat auch heftige Spuren hinterlassen.
Zitat Egal ob Italien, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Griechenland oder Österreich: Für etliche Jahrzehnte nach 1945 gab es in jeden dieser Länder EINE dominante konservative Partei und EINE dominante sozialdemokratische Partei, die zusammen typischerweise über 80% der Parlamentssitze hatten.
Es gab dort aber immer auch noch andere Parteien, und in den übrigen europäischen Ländern war die Parteienvielfalt noch größer.
Zitat Interessanterweise ist dieser Umbruch aber in den meisten europäischen Ländern schon vor Jahrzehnten passiert (z.B. in Italien und Österrecih).
Weil da offenbar schon früher Anlässe da waren. Die Ursachen dürften m. E. aber dort nicht so viel anders oder früher da gewesen sein. Von "Politikverdrossenheit" spricht man ja in Deutschland auch schon lange. Nur waren halt die Stammwählerbindungen zu stark bzw. die Gründungshindernisse für neue Parteien zu hoch, als das das schon früher aufs Parteiensystem durchgeschlagen hätte.
Zitat Griechenland und Spanien durchleben zum Beispiel schwere Rezessionen. Dass da Extremisten sprießen ist nachvollziehbar.
Natürlich. Aber ich halte es fast für nebensächlich, ob die Unzufriedenheit nun bei Extremisten landet oder "nur" bei Populisten. Ist ja sowieso heftigst umstritten, ob FN, UKIP, AfD oder Syriza nun demokratischer Protest oder pöse Verfassungsfeinde sind. Deren Wählern scheint das auch ziemlich egal zu sein.
Zitat Und es gibt keine wirtschaftliche Krise. Ganz im Gegenteil: Die Indikatoren Beschäftigungsquote, Inflation, Staatsdefizit sind alle so gut wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Die Zufriedenheit der Leute macht sich aber weniger am Staatsdefizit als am persönlichen Wohlstand und vor allen den persönlichen Zukunftsaussichten fest. Und da ist es der Angst-Lobby in Politik und Medien erfolgreich gelungen breiten Kreisen einzureden, daß "die Schere immer weiter aufgeht", immer größere Bevölkerungsteile von Armut bedroht sind und der "Sozialabbau" kaum noch ein menschenwürdiges Leben zuläßt. Und teilweise deckt sich diese Propaganda auch mit den Wahrnehmungen gerade schlichterer Einkommensschichten, weil ihre Lohnzuwächse über Jahre weitgehend für Abgaben und politisch verursachte Kostensteigerungen (EEG!) draufgegangen sind.
Und es ist auch nicht gesagt, daß Unzufriedenheit überhaupt viel mit konkret meßbaren Sachen zu tun haben muß.
Siehe Schweiz: Die ist ja nun eigentlich die Insel der Seligen in Europa, alle möglichen Meßgrößen sind positiv, das politische System ist eigentlich viel besser als jedes andere in Europa - und trotzdem gibt es dort massive Unzufriedenheit und eine starke Zunahme von Protestparteien (SVP).
Und das finde ich besonders deprimierend, weil in der Schweiz genau die politischen Verbesserungen schon implementiert sind, die ich mir für Deutschland wünschen würde. Die wirken zwar positiv, der Schweiz geht es besser als Deutschland - aber gegen die Unzufriedenheit scheinen sie kaum zu helfen.
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