Die (auto)biographischen Beiträge sind eine Basis für das Nachdenken über unsere grundsätzlich gestellte Frage, was der Begriff „Heimat“ heute meint.
Unter meinen Zetteln in der Schublade muss eine Notiz liegen für einen Aufsatz, den ich zu schreiben mal vorhatte: über den Charakter europäischer Länder. Ich hatte im Auto von George Steiner im Rundfunk einen Vortrag gehört, in dem er auf faszinierende Weise Mythen und Epen deutete. Er sagte etwa: Europa – das bedeutet Wissenschaft, verkörpert in der Schlauheit des Odysseus, der Troja nach 10 Jahren doch noch mit dem Scheinopfer des Holzpferds eroberte; Europa hat, wie sein griechischer Obergott zeigt, als ‚Wert‘ Sex mit Gewalt: Raub der Europa in Stiergestalt. (Nebenbei: 10 Jahre blieb Troja stehen, weil Achill aus Zorn im Zelt saß, dass der Oberfeldherr ihm die Kriegsbeute, die hübsche Briseis abpresste, beider Verhalten gehört auch zum Europastil).
Ich dachte im Anschluss daran weiter nach: Was offenbaren dann die germanischen Mythen und Epen? Was geschieht im Nibelungenlied? Soweit ich mich erinnerte: Rache im Streit um den Mord an Siegfried, um die Ehre bis zum Tod fast aller; Heirat bloß, um einen Rächer mit großem Heer zu finden. Vom damals jungen Christentum am Rhein nur Allzumenschliches: Streit, wer die Ehre hat, die Domtüre als erste zu durchschreiten, heidnisches Opfer an der Donau: der Kaplan wird ertränkt, damit der Rachezug gelänge. Die gleiche Todessucht bei Hitler, der den Sieg oder den Tod des deutschen Volkes wollte. Puh, ist das unser Nationalcharakter? Selbst das Kudrunlied aus dem Mittelalter mit dem versöhnlichen Mädchen kommt ohne Wates rächendes Schwert nicht aus. Ich habe eine alte Ausgabe aus der Nazizeit (ein Bändchen in grauem Leinen., Deutsche Bibliothek Verlag Berlin, Leipzig o.Jg) , in der das Vorwort von einem Prof. Eugen Wolbe am Schluss Wate zitiert: „Lasst das Klagen, denn Ihr macht sie nicht wieder lebendig, die den Tod gefunden. Doch wenn einst die Jugend dieses Landes zu Männern herangewachsen sein wird, dann kommt der Tag der Rache!“ (Satz gesperrt gedruckt); und der Verfasser endet mit: „Es ist, als spräche der alte Kämpe zu dem Geschlecht unserer Tage …“ (S. 22)
Ich dachte nun daran, einen Vergleich zwischen Odysseus und Abraham zu schreiben, und damit bin ich bei unserem Thema und dem Thema des Odyssee-Epos: die lange Irrfahrt der Heimkehr. Der König von Ithaka will heim auf seine armselige Insel und zu seiner Penelope, zu seinem auf einer Baumscheibe festgemachten Bett. Selbst die bezaubernde Kirke verlässt er dafür wieder, die Sirenen hört der Schlaue am Mastbaum und dem Schwur festgezurrte, aber sie hindern ihn nicht an der süßen Heimatsehnsucht. Sein Wert „Heimkehr“ wurde zum überall gebrauchten Fremdwort Nostalgie. Ein zu Tränen rührender Mann. Danke, Homer! Und nun Abraham, der Kontrast. Ihn treibt es – jüdische Legenden deuten die knappen Genesisworte aus – in die Fremde, zuhause als Ketzer, Atheist erkannt; er streift durch die Welt und sucht eine Antwort auf sein Gottesproblem: Weiß irgendjemand mehr und Besseres? Er verlässt die Religion seines Vaterhauses und wird Religionskritiker. (Diesen Teil der Frage habe ich meinen Studenten mitgeteilt: Mit welchem Recht durfte, musste Abraham den Glauben seines Vaters verlassen?) In Israel kauft er als Heimatloser einen Grabplatz für seine Frau Sara. Das ist sein ganzer Besitz, der bis heute die Welt bewegt, den die Unverständigen „Besetzung Palästinas“ nennen. Thomas Mann hat in seinem Josephsroman die Leistung dieses Anfängers „Gottesarbeit“ betitelt. Historisch war es sicher nur ein kleiner Schritt, in der biblischen Sage ist das spätere Erfahrungswissen eingewandert und hat seine Gestalt zum „Vater des Glaubens“ (auch für die Christen) gemacht.
Theologisch ist das Thema Heimkehr unerschöpflich. Es reicht von der Heimkehr des Verlorenen Sohnes, dem der Vater ein Fest bereitet (wobei der eigentlich Verlorene der knurrende Bruder ist!), bis zum neuplatonisch-christlichen Großbild der Erlösung als Heimkehr der Seele aus dem Gefängnis der materiellen Welt in die ewige Heimat bei dem einen Gott, der Geist ist. Heimkehr als Ende der Geschichte – das ist fast schon antijüdisch, unbiblisch; biblisch ist die Verbindung des Himmels zusammen mit der Erwartung einer neuen Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt (2 Petr 3,13).
Also nochmals: Auch das ist eine Wurzel Europas. Vor Athen (Philosophie und na ja Demokratie im Anfang) und Rom (Straßenbau und Recht) Jerusalem (Aufklärung als Glaube statt der falschen Heimat in menschengemachter Religion).
Ludwig Weimer
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