Lieber Noricus!
Die Linien des Lebens sind natürlich sehr verschieden. Meines wurde früh, keine vier Jahre war ich alt , davon geprägt, dass mein Vater vom Blitz erschlagen wurde und eine Tante einen Spruch tat, den die Mutter uns kundtat, sobald wir denken konnten, damit wir uns von dieser Verwandten fernhielten: „Deinen Mann hat Gott geholt (=gestraft), meiner ist auf dem Feld der Ehre (in Rußland) gefallen.“ Es liegt nahe, darin einen der Gründe für meinen Beruf (Theologe) zu sehen. Eine Frage ist: Im Alter bin ich klüger geworden und würde mit dem gleichen Wissen gerne noch einmal mit 18 anfangen. Beim Vermitteln an jetzige Andere in diesem jungen Alter bemerkt man, dass man die Erfahrungs-Zeit nicht allzu sehr überspringen kann. Wäre es anders, wäre die gegenwärtige Menschheit auf allen Gebieten viel klüger, als sie ist. Wissenschaft und Technik lassen sich so steigern, aber die politische, soziale und menschlich-moralische Kraft nicht. Nicht einmal aus den Fehlern der Elterngeneration lernt die nächste Generation entscheidend. Vielleicht ist dies dem Pendel geschuldet, einem Trick der Natur, der sonst dadurch das Neue, eventuell Gegensätzliche findet? Ich machte die Erfahrung, dass ich, wenn ich in einem guten Buch nach Jahren zum zweiten oder dritten Mal lese, Dinge herauslese, die ich früher nicht sah. Das einzelne Leben kann lernen, aber es kann diese Weisheit nicht auf Schüler eins zu eins übertragen. Da ich das Glück habe, in einer Gemeinschaft leben zu können, erlebe ich freilich auch, dass der eine oder andere aus der übernächsten Generation, der gerade von der Schulbank auf die Uni wechselt, mich anzapft und verstehen kann, was ich in seinem Alter noch nicht verstand. Das ist eine große Freude. Ich sehe da eine Parallele zu der Förderung der Jugendlichen in der Antike, und man glaubte damals ja an ein Weiterleben in den geistigen Kindern. Ich finde jedenfalls Ihre poetische Besinnung anregend. Danke! Ludwig Weimer
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