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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 12 Antworten
und wurde 1.076 mal aufgerufen
 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

29.04.2008 20:03
Wir Achtundsechziger (5): Wie lebte man? Antworten

Aus kaum einer Quelle kann man das authentischer, aus keiner spannender erfahren als aus der Serie "Der Kommissar"

Calimero ( gelöscht )
Beiträge:

29.04.2008 21:54
#2 RE: Wir Achtundsechziger (5): Wie lebte man? Antworten

Hallo Zettel,

ich frage jetzt mal als völlig unbedarfter, 1989 16-jähriger DDR-Bürger: Adorno, was machte ihn aus? Wieso ist er noch heute präsent? Was macht ihn so wichtig für die 68-er und die heute Herrschenden?
Sie haben ihn ja erlebt, woher rührt sein Nachklang? Wikipedia kann ich selbst besuchen, aber was haben Sie konkret über Adorno zu sagen? Würd mich echt mal interessieren, was den Mann so unsterblich gemacht hat.

Viele Grüße, Calimero

Dagny Offline



Beiträge: 1.096

29.04.2008 23:03
#3 RE: Wir Achtundsechziger (5): Wie lebte man? Antworten

Die Frage meines Vorredners finde ich auch interessant, möchte aber noch ergänzen, dass vermutlich die (Fernseh-)Werbung (sofern man dazu Zugang hat, das weiss ich nicht) einen guten Einblick in den jeweiligen Zeitgeist liefert.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

29.04.2008 23:10
#4 Adorno Antworten
Zitat von Calimero
Adorno, was machte ihn aus? Wieso ist er noch heute präsent? Was macht ihn so wichtig für die 68-er und die heute Herrschenden?

Da fallen mir, lieber Calimero, viele Antworten ein. Man ist da freilich im Reich der Vermutungen. Also, ziemlich ungeordnet (und auch subjektiv, sehr aus meiner eigenen Sicht):

1. Adorno repräsentierte die große weite Welt ("der Duft der großen weiten Welt; Peter Stuyvesant"). Er war in den USA gewesen, hatte dort angeblich eine wichtige Arbeit zur autoritären Persönlichkeit verfaßt (er war wohl unter den Autoren nur als erster genannt worden, weil diese alphabetisch aufgeführt wurde; aber man zitierte es eben als "Adorno et al."). Also, er gehörte zusammen mit Horkheimer zu den Emigranten, die zurückkamen. Er war schon dadurch schick und modern.

2. Dann stellte zweitens das Frankfurter Institut für Sozialforschung die Verbindung zu der Zeit vor den Nazis her. Damals hatte es eine gewisse Berühmtheit gehabt, die auch gerechtfertigt gewesen war. Diese Tradition nahmen Horkheimer und Adorno wieder auf; aber international hatten sie nie viel Erfolg. Aber in Deutschland war man nach 1950 natürlich begierig, wieder eine glanzvolle Sozialforschung zu bekommen. Ernsthaft empirisch arbeiteten damals nur wenige, wie René König in, glaube ich, Köln. Das war aber nicht so prickelnd wie die weitgespannten Spekulationen der Frankfurter Schule.

3. Diese Spekulationen nun waren "progressiv". Ich habe im ersten Teil der Serie "Wir Achtundsechziger" ein wenig geschildert, wie es in der Adenauer-Zeit war: Die Macht hatten die Rechten, aber der Geist stand links. Und Adorno war links. Er lieferte sozusagen die Gesellschaftstheorie zu dieser linken Grundströmung bei den meisten Intellektuellen.

4. Vor allem erlaubte diese "Kritische Theorie", sich von der Nazi-Zeit abzusetzen. Ich habe in Frankfurt die Vorlesung "Philosophische Terminologie" gehört, die dann als Buch erschien. Da hat sich Adorno auf eine sehr gehässige und auch nicht besonders intelligente Art über Heidegger lustig gemacht. Wir Studenten johlten. Denn Heidegger, das war für uns reaktionär, muffig, irgendwie deutsch und schon deshalb schlecht. Heidegger hatte ja sogar kurzzeitig mit den Nazis geliebäugelt.

5. Diese "Kritische Theorie" nun war links, aber auch wieder nicht so links, daß man am Ende Ernst hätte machen müssen mit der Revolution. Das Bestehende war schlecht, "irgendwie" artikulierte Adorno den Traum von der ganz anderen Welt, in der dieses bestehende Schlechte dialektisch umkippen würde in eine freie und gerechte Gesellschaft. Das fand man gut. Das war progressiv, aber es roch nicht nach dem Schweiß von Proleten. Man konnte sich gewissermaßen mit Adorno'schen Schwingen wunderbar über diese ganze merkantile, spießige, entfremdete Welt erheben, ohne daß man ernsthaft für Veränderungen arbeiten mußte. Das war schön, weil es wunderbar bequem war.

6. Adorno war ein Star. Er zelebrierte seine Vorlesungen. Er konnte keinen Satz sagen, ohne daß das nach tiefer Bedeutung klang. Er sprach in der Tat druckreif, in langen, gedrechselten Sätzen, die meist am Ende aber doch ihr Verb fanden. Den Mund gepitzt, nein irgendwie gerollt, und daraus quollen diese Wörtschlangen. Wenn man sich überlegte, was er eigentlich gesagt hatte, war das oft arg trivial. Aber er hatte es sooo schön gesagt. Viele Studentinnen himmelten "Teddy" an, und er soll auch nicht unempfindlich dafür gewesen sein; da gab es viele Stories. Kurz, der Mann hatte Charisma. Ganz anders als Horkheimer, der sicher der bedeutendere Wissenschaftler war, aber ein zurückhaltender Mann, ein wuchtiger Denker, wo Adorno ein zierlicher Formulierer war.

7. Und das dürfte schließlich der wichtigste Grund für Adornos Erfolg gewesen sein: Er konnte formulieren, und wie! Er sprach wie gedruckt, und er schrieb so, daß man sich umso mehr daran berauschen konnte, je weniger man verstand. Es war ein sehr ähnlicher Effekt wie einst bei Hegel. Studenten sind stolz darauf, wenn sie gewissermaßen Anteil an soviel Intelligenz haben können. Sie geben nicht zu, daß der Kaiser nackt ist, daß sie im Grunde nix kapieren. Sie eignen sich eine Sprache an (bei Sartre in Paris war das ähnlich), mit der man ungeheuer beeindrucken kann.



Sie sehen, lieber Calimero, ich halte nicht sehr viel von Adorno.

Ich will nicht sagen, daß mir damals seine Vorlesungen keinen Spaß gemacht hätten. Aber es war doch mehr der Show-Effekt.

Philosophie habe ich bei anderen gelernt. In Frankfurt damals bei einem unbekannten Lehrbeauftragten namens Ernst, einem Fachmann für Leibniz. Und in Tübingen bei Walter Schulz.

Der konnte an öffentlicher Bekanntheit Adorno nicht das Wasser reichen. Aber als Philosoph war er ungleich bedeutender als Adorno, so wie viele dieser Zeit im deutschen Sprachraum: Heidegger, Karl Jaspers, Karl Löwith, vor allem auch Hans-Georg Gadamer, ein ungeheuer beeindruckender Mann.

Herzlich, Zettel

(den solche Fragen immer freuen, die a bisserl zum Nachdenken anregen)
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

29.04.2008 23:28
#5 RE: Wir Achtundsechziger (5): Wie lebte man? Antworten

Zitat von Dagny
Die Frage meines Vorredners finde ich auch interessant, möchte aber noch ergänzen, dass vermutlich die (Fernseh-)Werbung (sofern man dazu Zugang hat, das weiss ich nicht) einen guten Einblick in den jeweiligen Zeitgeist liefert.

An TV-Werbung aus dieser Zeit habe ich, liebe Dagny, nur schwache Erinnerungen; ich glaube, es gab auch nicht viel davon. Irgendwann im Vorabendprogramm lief der "Werbefunk"; das war eine eigene Sendung. Die Mainzer vom ZDF waren besonders erfolgreich damit, weil sie sie mit den Mainzelmännchen verschönerten.

Die Werbung war damals viel direkter als heute. Sie besagte, wie die Anpreisungen des Händlers im Basar, im Prinzip einfach: Guckt her, wie gut unsere Waren sind.

Es gab nicht diese Ästhetisierung wie heute; nicht diese wunderschönen Bilder, an die dann ganz diskret die Werbebotschaft angehängt wird. Sondern die kam klar und deutlich daher: "Persil bleibt doch Persil" "Die Seife der Filmstars" "Rauche, staune, gute Laune", "Deutschland im Afri-Cola-Rausch".

Das mit dem Rausch, das waren dann schon die Siebziger. Da wurde auch vom "Duft der großen weiten Welt" geträumt und es gab eine sehr erfolgreiche Werbung für Wodka Gorbatschow, in der ein gewisser Frank S. Thorn einen lakonischen Dialog mit einem Bären führte.

Aber, liebe Dagny, wenn Sie mir den Rat nicht übelnehmen: Darüber, wie man wirklich lebte, erfahren Sie viel mehr aus dem "Kommissar". Ehrlich.

Herzlich, Zettel

Nola ( gelöscht )
Beiträge:

29.04.2008 23:58
#6 RE: Wir Achtundsechziger und wie wir groß wurden Antworten
Ich verfolge diesen Thread schon länger und möchte mal ein bißchen aus der Jugend/Kindheit dazu beitragen - einfach ein Lebensgefühl::

Als Kinder saßen wir in Autos ohne Sicherheitsgurte und ohne Airbags.
Unsere Bettchen waren angemalt mit Farben voller Blei und Cadmium.

Das Fläschchen aus der Apotheke konnten wir ohne Schwierigkeiten öffnen, genauso wie die Flasche mit Reinigungsmitteln.

Unsere Mutter ging auf dem Markt einkaufen und es gab jeden Tag "richtiges selbstgekochtes Mittagessen" wenn wir aus der Schule kamen!

Türen und Schränke waren eine ständige Bedrohung für unsere Finger,
und auf dem Fahrrad trugen wir nie einen Helm.

Wir tranken Wasser aus Wasserhähnen und nicht aus Flaschen.

Wir bauten Wagen aus Seifenkisten und entdeckten während der ersten Fahrt den Hang hinunter, dass wir die Bremsen vergessen hatten. Damit kamen wir nach einigen Unfällen klar.

Wir verließen morgens das Haus zum Spielen. Wir blieben den ganzen Tag weg und mussten erst zu Hause sein, wenn die Straßenlaternen angingen.

Niemand wusste, wo wir waren und wir hatten nicht einmal ein HANDY dabei!

Wir haben uns geschnitten, brachen uns Knochen und Zähne und niemand wurde deswegen verklagt. Es waren eben Unfälle.
NIEMAND HATTE SCHULD AUSSER UNS SELBER!

Wir hatten Streit und verhauten uns. Damit mussten wir leben, denn es interessierte die Erwachsenen nicht besonders.

Wir aßen ungesundes Zeug (Schmalzbrote, Schweinsbraten usw.), keiner scherte sich um die Kalorien und trotzdem war keiner fett.
Wir waren 15 und probierten vorsichtig unsere erste Cola/Rum und trotzdem wurde keiner alkoholsüchtig. (An „Flatrate“ Saufen gar nicht zu denken.)

Wir tranken mit unseren Freunden aus einer Flasche und niemand starb an den Folgen.

Wir hatten nicht: Playstation, Nintendo64, X-Box, Video-Spiele, 64 Fernsehkanäle,
Filme auf Video und DVD, Surround-Sound, eigene Fernseher, Computer, Internet-Chat-
Rooms, Jahreskarten im Fitness-Club, Handys etc.

WIR HATTEN FREUNDE!

Wir gingen einfach raus und trafen sie auf der Straße. Oder wir marschierten einfach zu denen nach Hause und klingelten. Manchmal gingen wir auch ganz einfach so hinein.
Ohne Termin und Wissen unserer gegenseitigen Eltern. Keiner brachte uns und keiner holte uns !

Wie war das nur möglich?

Wir dachten uns Spiele selber aus.
Beim Straßenfußball/Völkerball durfte nur mitmachen, wer gut war. Wer nicht gut war, musste lernen, mit Enttäuschungen klarzukommen.

Fahrräder (nicht Mountain-Bikes) wurden von uns selber repariert.

Manche Schüler waren nicht so schlau wie andere. Sie rasselten durch Prüfungen und wiederholten Klassen. Das führte damals nicht zu emotionalen Elternabenden oder gar zur Änderung der Leistungsbewertung.

Wir hatten Freundschaften und ersten Sex und unsere Taten hatten manchmal Konsequenzen, aber keiner konnte sich verstecken.

Wenn einer von uns gegen das Gesetz verstoßen hat war klar, dass die Eltern ihn nicht automatisch aus dem Schlamassel herausholen. Im Gegenteil: Sie waren oft der gleichen Meinung wie die Polizei. (Wehe man war unter 16 inner Disco oder ist ohne Beleuchtung Fahrrad gefahren)

Na so was !
Unsere Generation hat eine Fülle von innovativen Problemlösern und Erfindern mit Risikobereitschaft hervorgebracht.

Wir hatten Freiheit, Misserfolg, Erfolg und Verantwortung. Mit allem mussten wir umgehen, wussten wir umzugehen!

--------------------

weil

... die meisten von uns sich ihren Platz im Leben erobern mußten. Ganz oben oder ganz unten, das lag meistens an uns selbst. Es war niemals - nicht in jener Zeit - das Gefühl von "ich sehe keine Zukunft für mich". Wir waren neugierig auf die Zukunft und wir fügten uns in ein System, das ganz klar vorgab, das wir für unseren Lebensunterhalt arbeiten müssen. (Utopisch der Gedanke, mit 20 Jahren auszuziehen und eine Wohnung nebst Einrichtung vom Sozialamt oder Arbeitsamt GESCHENKT zu bekommen)

... Obwohl unsere Voraussetzungen und Rahmenbedingungen ganz sicher nicht immer die besten waren. Wir kannten damals sogar schon recht früh den Unterschied "Arbeiterkinder" oder Kinder von Angestellten und besser. Auch als junger Mensch im Berufsleben war das noch lange ein Kriterium um einen Stand in der Gesellschaft zu dokumentieren.

Eine Zeit, in der "alte Omas" und Kriegswitwen es als verpönt ansahen, sich vom Sozialamt die ihnen zustehende Hilfe geben zu lassen. Und deren Kinder, also die Generation meiner Eltern, es als selbstverständlich ansahen, hier Unterstützung zu geben. Hier ist zum ersten Mal für uns Jugendliche erkennbar gewesen, woraus sich Werte wie Ehre, Moral und Anstand zusammensetzen. Ohne uns das erklären zu müssen.

... wir hatten Lehrer in der Schule, welche eine Katastrophe waren. Auch hier machten wir unsere Erfahrungen, uns mit Unrecht und Enttäuschung auseinander zu setzen.
Dann, aber höchstens dann, kamen unsere Eltern in die Schule marschiert und haben sich eingemischt. Alles andere wurde an unseren Zensuren abgelesen. Wir hatten aber mindestens genauso viele Lehrer, die ihren Beruf und auch die ihnen anvertrauten Kinder gemocht haben - ohne Ansehen der Person.
... wir hatten Respekt gegenüber (na klar) der Obrigkeit, der Polizei, aber auch vor älteren Menschen, vor Kranken und Behinderten und wir boten in der Straßenbahn höflich unseren Sitzplatz an.

... und niemals - nicht im Traum dran zu denken - hätte ich von meinen Eltern als "meine Alten", die Alte kommt gleich" usw. gesprochen. Das kam in unserem Vokabular nicht vor, wir hatten einfach Respekt vor unseren Eltern, der, wie ich heute zu schätzen weiß, mehr als verdient war.

... wir machten unsere Witzchen über alles und jedes, und ich kann mich z.B. an einen kriegsversehrten Nachbarn ohne Beine erinnern, der ein irgendwie zusammengebautes Gefährt hatte, das uns Kinder zwangsläufig zum witzeln und Sprüche machen aufforderte. Aber wird sind für ihn einkaufen gegangen, haben unseren Eltern davon erzählt, was zur Folge hatte, das Mutter regelmäßig einen Kuchen für ihn mit gebacken hat.

... zu Weihnachten oder Ostern gab es immer ein neues Kleidungsstück, als Überraschung versteht sich, nich 2 Wochen vorher selbst ausgesucht. Menno, haben wir uns da gefreut.

... wir wurden ausgemeckert, in die Pfanne gehauen von Nachbarn, die uns bei unserer ersten heimlichen Zigarette erwischt hatten, und was ein Riesen-Donnerwetter zu Hause zur Folge hatte. (Nur wegen der doofen Frau XY..)

... wir hatten "Stubenarrest" und mußten diesen zwangsläufig zur Besinnung nutzen, es gab kein Fernsehen, keinen Besuch von den anderen. Ich kann mich nur zu gut an das nicht enden wollende Ticken der Wohnzimmeruhr in der Dämmerung erinnern.

... wir hatten Eltern, die arbeiten gingen und von uns Kindern erwartet haben, das sie sich auf uns verlassen können. (Na klar mehr oder weniger)

... wir mußten zum gemeinsamen Abendbrot zu Hause sein, in Ausnahmefällen anschließend nochmal 1 Std raus.

... wir wußten, wenn wir gar zu schlimmen Blödsinn anrichteten, daß unsere Eltern dafür zur Verantwortung oder im schlimmsten Falle zur Kasse gebeten wurden. Überall gab es noch die Schilder: Eltern haften für ihre Kinder. Nicht immer, aber meistens hielt uns das ab.

... wenn "Rummel" oder Schützenfest war, bekam ich von meinem Vater 30 Pfennige. damit konnte ich mir ausrechnen 1 x Karussell, oder ein Eis. Fast hätte ich alles immer mit nach Hause gebracht, weil ich nichts für gut genug befand meine 30 Pfennige auszugeben.

... wir sind mit jeder Menge Lebensweisheiten, aber auch "saudummer Sprüche" groß geworden, wie:
Lehrjahre sind keine Herrenjahre, du lernst nicht für die Schule sondern für Dich, Geh nicht mit dem Brot zum Essen auf die Straße, ach ja "wehe, Du schmeißt Brot weg", was sollen die Nachbarn denken, am schlimmsten war: warte bis Papa nach Hause kommt ... daher das langsame Ticken der Wohnzimmeruhr.

... wir sparten von unserem Lehrlingsgeld unseren Führerschein zusammen, meist aber erst als ausgelernt. Das Auto dazu haben wir aus Erspartem dann erst Jahre später kaufen können.

ich muß mal aufhören, diese Zeiten haben so viele Weichen gestellt für uns 68er, die aber dennoch oder gerade deswegen in die 68-Falle gestolpert sind.


"68er" sind wir geworden, weil wir mit weitaus weniger guten Umständen und Startmöglichkeiten, ohne einen "Gesetzesschutz" und da auch festgelegten Erziehungsablauf zum erfolgreichen Gelingen dieser einstmals blühenden Landschaften beigetragen haben. Wir haben wie unsere Eltern, die Ärmel aufgekrempelt.

Ohne Rückversicherung, ohne Lichtlein (Arbeitsamt/Sozialamt) am Ende des Tunnels.

Ps. Übrigens, wer kennt noch einen Pindopp?

♥liche Grüße Nola

Dagny Offline



Beiträge: 1.096

30.04.2008 01:25
#7 RE: Wir Achtundsechziger und wie wir groß wurden Antworten

Zettel schrieb:
Es war ein sehr ähnlicher Effekt wie einst bei Hegel. Studenten sind stolz darauf, wenn sie gewissermaßen Anteil an soviel Intelligenz haben können. Sie geben nicht zu, daß der Kaiser nackt ist, daß sie im Grunde nix kapieren. Sie eignen sich eine Sprache an (bei Sartre in Paris war das ähnlich), mit der man ungeheuer beeindrucken kann.

Als Naturwissenschaftlerin ist das natuerlich Wasser auf meine Abneigung gegen Pseudointellektuelle Laberfächer ;)


Zu meinem Vorredner: Hat nicht schon Platon erklärt, dass mit der Jugend von heute nichts mehr anzufangen sei?

califax Offline




Beiträge: 1.502

30.04.2008 01:54
#8 RE: Wir Achtundsechziger und wie wir groß wurden Antworten
Zitat von Dagny
Zettel schrieb:
Als Naturwissenschaftlerin ist das natuerlich Wasser auf meine Abneigung gegen Pseudointellektuelle Laberfächer ;)



Aber wer entscheidet, was ein Laberfach ist? Ich befürchte, es sind die Studenten. Wenn die ein Laberfach oder ein Seminar zum Auswendiglernen wollen, muss selbst der beste Dozent scheitern. Das fängt schon bei Kleinigkeiten an. In der Naturwissenschaft geht man ganz selbstverständlich davon aus, daß die Studenten die Geometrie von Flächen und Newtons Gesetze kennen. Und niemand muss befürchten, daß die Studenten versuchen, mithilfe dieser Sachen die Flugbahn eines Satelliten zu berechnen. Denn natürlich ist die Erde keine Scheibe, obwohl wir bei der Ausmessung eines Sandkastens so rechnen, als wäre sie eine. Und natürlich gibt Newton keine Antwort auf das Problem der Synchronisation von Uhren im Orbit, obwohl man mit ihm prima Pendeluhren basteln kann.

Aber wenn es zum Beispiel um Sprache geht: um den Zeichenbegriff von de Saussure und Derridas vernichtende Stichelei - dann lernen die Leute de Saussure auswendig und tun alles, um Derrida zu umgehen. Und sie schaffen es, weil im Studium meist die Zeit fehlt, um ernsthaft über Wochen hinweg zu diskutieren. Denn Derrida war ein Schwafler, ein großer Denker und Provokateur, aber eben auch ein kryptischer Schwafler, den man erstmal mühsam analysieren und zerlegen muss.
Nur: Der Zeichenbegriff von de Saussure ist für das Verständnis von Sprache so grundlegend wie die Geometrie in der Ebene für das Verständnis von Mathematik. Aber auch keinen Deut weiter.

Geisteswissenschaft braucht die kritische und auch harte Diskussion so nötig wie die Naturwissenschaft das Rechnen. Beide brauchen das Beweisen. Aber geisteswissenschaftliche Probleme lassen sich fast nie in Formeln pressen. Die Beweise kann man nur in der ausformulierten und rhetorisch geschliffenen Diskussion finden, so wie man in der Naturwissenschaft im Umgang mit Symbolen, Körpern, Mengen und Algorithmen geübt sein muss. Es sind unterschiedliche Sprachen aber ganz ähnliche Probleme.

In der Naturwissenschaft wird die Mathematik und die formale Logik eingepeitscht. Zu Recht. In der geisteswissenschaftlichen Lehre werden derzeit leider viel zu wenige Ressourcen auf die Rhetorik und die - Logik! - verwendet.
Dabei ist gerade die Verbindung von Logik und Rhetorik die Sprache aller Probleme, die sich nicht in Formeln pressen lassen. Aber Rhetorik ist immer noch als Täuschungsmittel verpönt und Logik meint man auf die Naturwissenschaften abschieben zu können. Das Ergebnis sind in Deutschland zahllose Arbeiten, die man unter NON SEQUITUR ablegen müsste.

Klug und fleißig - Illusion
Dumm und faul - das eher schon
Klug und faul - der meisten Laster
Dumm und fleißig - ein Desaster

The Outside of the Asylum

Calimero ( gelöscht )
Beiträge:

30.04.2008 06:56
#9 RE: Adorno Antworten

Hallo Zettel. Danke für die gelungene, plastische Situationsbeschreibung. Ich denke, ich kann mich da einfühlen. Gruß, Calimero

Calimero ( gelöscht )
Beiträge:

30.04.2008 07:34
#10 RE: Wir Achtundsechziger und wie wir groß wurden Antworten

Hallo Nola,

wirklich ein schöner Text. Und, erstaunlich, wie deckungsgleich die Situation mit meiner Kindheit und Jugend in den 70-er/80-er Jahren in der DDR war (okay, mit 30 Pfennig hätte man auf dem Rummel nix reißen können, da war das Budget eher bei 5 Mark).

Wenn aber die 68-er auf so eine Jugend zurücksehen, woher kommt die Weichenstellung in die heutige Angstgesellschaft, die Vollkasko-Mentalität, die Akzeptanz der Leistungsverweigerung?

Ehrlich gespannt verbleibt, Ihr Calimero

Inger Offline



Beiträge: 296

30.04.2008 17:25
#11 RE: Wir Achtundsechziger und wie wir groß wurden Antworten

Hi Nola,
genau den Text habe ich schon anderwo gelesen - ich muß sagen: Alles exakt.
Aber wir waren bei dem Baggermatsch auch noch nicht allergisch und selbstmitleidig geworden.
Grüßchen,
Inger

Nola ( gelöscht )
Beiträge:

30.04.2008 20:49
#12 RE: Wir Achtundsechziger und wie wir groß wurden Antworten


Ja, ganz recht, liebe Inger,

vor einiger Zeit habe ich eine ähnliche Diskussion in einem medizinischen Forum gehabt. Ich schrieb damals "wir waren Helden". Aber eines stimmt ganz gewiß - wir waren nicht selbstmitleidig und da wo der Baggerschutt und Matsch vorhanden war, standen eben auch diese Schilder: Eltern haften für ihre Kinder. Habe ich schon ewig nicht mehr gelesen, geschweige denn gehört. Warum auch, heute wird man bezahlt fürs Kinderkriegen, der Anreiz muß geschaffen werden, alle sind irgendwie "Pflichteltern" geworden, indem uns tagtäglich der Geburtenrückgang vor Augen geführt wird und eine steuerliche "Bestrafung" ohne Kinder droht. Meine Tochter ist 1969 geboren und gehörte damit zu den "geburtenstarken" Jahrgängen, die deshalb schon wußten, daß nur eine gute Schulausbildung zu einem späteren Berufsleben führte, darum haben wir Eltern uns auch gekümmert.

Aber allergisch bin ich dennoch geworden, wenn Eltern ihre Kinder der Allgemeinheit überlassen ohne die eigene Verantwortung wahrzunehmen.



♥liche Grüße Nola

Nola ( gelöscht )
Beiträge:

30.04.2008 21:46
#13 RE: Wir Achtundsechziger und wie wir groß wurden Antworten
Lieber Calimero,

ich denke wir waren "hüben und drüben" was die Erziehung in den 60er Jahren angeht, nicht weit von einander entfernt. (Unser Taschengeld differierte nicht zuletzt wegen der "paar" Jährchen die dazwischen liegen.)
Wir waren die Nachkriegsgeneration, die mit der Aufbruchsstimmung unserer Eltern groß wurden. Und die dann, als diese Stimmung längst aufgebraucht war, in den 70er Jahren uns nicht mit Stillstand zufrieden geben wollten. Natürlich hat in weiteren 4 Jahrzehnten unser Leben so manche Ecken und Kanten gerundet, so daß auch wir "satt" waren.

Aber ängstlich - nein - so würde ich das nicht nennen, eher ohnmächtig in dem Bestreben als Souverän über Wahlen etwas bewirken zu können. Offenen Auges zu sehen, das alles Erreichte, wenn man Pech hat und ohne eigenes Verschulden den Bach 'runtergeht.

Ich denke, wenn dieser Druck zu lange auf den Menschen lastet, führt es zu phlegmatischen Verhältnissen, die als winziges Lichtlein am Ende des Tunnels nur die Hoffnung haben, "Hoffentlich trifft es nicht mich".

Auch Leistungsverweigerung würde ich nicht als akzeptiert ansehen, ich frage mich jedoch - welche Leistung kann oder sollte man erwarten? Aber eines kann ich nicht mehr hören und das treibt mich um. "Die Kassen sind leer"! Selbst die Steuererhöhungen, die für den allgemeinen Geldbeutel eigentlich nicht tragbar sind, haben nicht zum verstummen des Herrn Steinbrück geführt. Das nenne ich jammern auf hohem Niveau. Warum? Ganz einfach, ich würde jedes Jahr die Recherche des Bundesrechnungshofes anschauen und daraus Konsequenzen ziehen. Statt dessen wird mit Freude verkündet, daß die Bahn teilprivatisiert wird. Eben nur ein Teil und zwar der Gewinnträchtige. Alles was Kosten verursacht wird beim Bund bleiben. Nachzulesen hier

♥liche Grüße Nola

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