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ZETTELS KLEINES ZIMMER

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Dieses Thema hat 3 Antworten
und wurde 648 mal aufgerufen
 The Outside of the Asylum
califax Offline




Beiträge: 1.502

06.07.2009 11:14
Eine seltsame Verwechslung Antworten

Mal etwas ganz unpolitisches zur Entspannung:
Eigentlich war es nur ein hingeschrubbter Testbeitrag für das renovierte Kleine Zimmer. Jetzt hab ich es mal ausformuliert. Wie kommt es, daß so oft Goethes Wahlverwandschaften und Wilhelm Meister verwechselt werden? Kaum erwähnt man Letzteres, schon meinen die Leute, man rede über Ersteres.
Dabei haben die beiden Romane eigentlich nur den Autor gemein.

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The Outside of the Asylum

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

06.07.2009 14:46
#2 Rumpelkisten-Prosa Antworten

Danke, lieber Califax, für diesen klugen Artikel, den zu lesen mir großes Vernügen gemacht hat und aus dem ich viel gelernt habe.

Auch ich gehöre zu denen, die nur die Wahlverwandschaften gelesen haben, aber nicht den Wilhelm Meister.

Was mir, als ich Ihren Artikel las, als erstes einfiel, das war eine Bemerkung von Arno Schmidt: "Goethes Prosa ist eine Rumpelkiste". Er wirft Goethe vor, schlicht die Prosaform nicht beherrscht zu haben.

Aber was ist eigentlich die Prosaform? Daß ein Roman sich, ohne stringentes Handlungsgerüst, von Episode zu Episode bewegt, war, so scheint mir, bis ins 19. Jahrhundert die Regel.

Im Simplicissimus, im Don Quijote könnte man viele Episoden vertauschen, und niemand würde es merken. Ganz zu schweigen von Schinken wie der "Insel Felsenburg" von Schnabel oder der "Handschrift von Saragossa". Das waren damals halt die Daily Soaps.

Dieses Rumpelkistenhafte gehörte dazu. Ich verehre Jean Paul, aber solche Mammutwerke wie den Titan mit allen seinen Abschweifungen und Verrenkungen habe ich nicht zu Ende lesen können.

Oder nehmen Sie Balzac oder auch Dickens. Was für eine Weitschweifigkeit. Die Menschen hatten damals halt Zeit zum Lesen; vor allem die Damen der Besseren Gesellschaft.



Straff durchkomponierte Romane hat in Frankreich, glaube ich, erst Flaubert geschrieben (vielleicht teilweise schon Stendhal, aber auch da geht es manchmal noch rumpelkistenhaft zu).

Und im Deutschen? Der Grüne Heinrich ist, so sehr ich ihn liebe, eine klassische Rumpelkiste. Selbst noch Fontanes "Vor dem Sturm". Er hat das wohl gemerkt und danach ja fast nur noch Erzählungen geschrieben, bis zum grandiosen "Stechlin".

Der Mann ohne Eigenschaften - auch so eine Rumpelkiste. Episode reiht sich an Episode, Weib an Weib. Es könnte ewig so weitergehen, und Musil ist ja auch nicht zu einem Ende gekommen.



Woran liegt es? Vielleicht spielen die Produktionsbedingungen eine Rolle.

Seit der Erfindung der Schreibmaschine hat der Autor ein Ms, in dem er schnell blättern, das er leicht immer wieder überarbeiten kann; erst recht natürlich heute am Computer.

Zuvor hatte man nix als ein handschriftliches Ms. Der Autor schrieb sozusagen linear, eine Episode nach der anderen. Bei manchen - nicht nur Karl May, ich glaube zB auch Balzac - war es so, daß der Anfang einer dieser unendlichen Geschichten schon gedruckt war, bevor er das Ende geschrieben hatte; es wurde ja viel kolportiert. Da kann man kein durchgearbeitetes Ganzes komponieren.

Herzlich, Zettel

califax Offline




Beiträge: 1.502

06.07.2009 23:49
#3 RE: Rumpelkisten-Prosa Antworten

Ich bin mir nicht sicher, ob eine Episodenstruktur grundsätzlich mit rumpelkistenhaft gut umschrieben ist. Sie hat etwas für sich und zwar die Möglichkeit, den Text eben episodenhaft auf mehrere Abende oder Reisen verteilt zu lesen. Episodenromane orientieren sich sehr stark am Bedürfnis des im Alltag beschäftigten Lesers, der sich seine Freizeit einteilen muß und deshalb portionierte Unterhaltung braucht: Kinofilm 1,5h, Fernsehstück und Soap 30 Minuten, Nachrichten 15 Minuten, Comic 15 Minuten, Romanepisode maximal 1 bis 2 Stunden bis zur Schlafenszeit.

Das gibt es heute noch. "Als wir träumten" von Clemens Meyer ist so ein Episodenroman. Das Durcheinanderwürfeln der Episoden hat der Autor gleich selbst gemacht. Damit erinnert der Roman ein bißchen an Filme mit ihren nicht eingeleiteten Vor- und Rückblenden. Diese Struktur gibt dem Buch viel Spannung und Leben. Darin ist nichts rumpeliges, es ist im Gegensatz eine sehr strenge Ordnung, die es erlaubt, ein Buch ohne großen Erinnerungsaufwand über viele Portionen verteilt zu lesen.

Aber: da gibt es Unterschiede! Im Pilgerroman dient die Episodenstruktur nicht dem Leser sondern dem Lehrer! Es handelt sich um Unterrichtseinheiten, bei denen der studierende Mönch einen Text erst hören und abschreiben, dann kopieren, schließlich selbstständig repetieren und dann im Disput erläutern und analysieren soll. Die Episoden sind da nicht einfach einzelne isolierbare Begebenheiten einer Handlung sondern stehen jeweils als Lektion für eine zu verinnerlichende Lehreinheit. So können in einem Pilgerroman beispielsweise 7 Reisebegleiter beigegeben werden, von denen jeder eine Todsünde repräsentiert und auslebt. Diese Reisegruppe kann dann 10 Abenteuer für die 10 Gebote durchleben. Um die Sache aufzulockern, kommen dann noch der Teufel mit seinen Versuchungen und ein rettender Engel dazu.

Genau an dieser Struktur hat sich Goethe in weiten Teilen von Wilhelm Meister orientiert. Eine Episode, eine Lebensweisheit. Goethe war freilich nicht so naiv wie die mittelalterlichen Mönche. Die Anzahl der Episoden wächst ihm denn auch irgendwann über den Kopf. Er hat einfach zuviele Lebensweisheiten einbauen wollen.
Das Rumpelige bei Goethe ist sein Beamtentonfall im Metanarrativ, der allmählich die schöne, poetische Sprache verdrängt. Eigentlich ist Wilhelm Meister ein Beispiel dafür, wie man mit wehenden Fahnen an dem Versuch scheitern kann, ein reiseallegorisches Lehrbuch für das gute Leben zu schaffen.

Es dürfte in der damaligen guten Gesellschaft aber feine Unterhaltung geliefert haben. Daß man bei der Menge an Text irgendwann den Überblick verliert, war da kein Problem - da mußte man eben streiten und belehren, schlichten und nachblättern, bis man den Faden wieder hatte. Wenn man dann noch mit verteilten Rollen las, hatte man pro Episode eine komplette Abendunterhaltung, konnte kurze und lange Kapitel der zur Verfügung stehenden Zeit entsprechend vorziehen oder aufschieben und gemeinsam einen ganzen Winter mit Wilhelm Meister zubringen. Und zum nächsten Winter hatte man schon wieder soviel aus der Handlung vergessen, daß man es ruhig nochmal lesen konnte. Das war die Lindenstraße dieser Zeit.

Ansonsten haben Sie natürlich Recht: Das war auch den Arbeitsbedingungen geschuldet. Zum einen eben das Problem des mühsamen handschriftlichen Notierens und Editierens in Loseblattsammlungen, die man immer mal wieder für teures Geld sortieren und in die Hände von Buchbindern geben mußte, um nicht im Chaos unterzugehen. Zum anderen aber auch der Mangel an Vorbildern! Viele Erzählmethoden und Tricks, die uns heute ganz selbstverständlich sind, gab es damals ja noch gar nicht. Man schrieb, wie man sprach, oder wie eine Figur auf einer Bühne sprechen sollte.

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The Outside of the Asylum

califax Offline




Beiträge: 1.502

07.07.2009 02:04
#4 RE: Rumpelkisten-Prosa Antworten

Nachtrag:

Sie haben da eine schöne Frage gestellt: Was ist eigentlich die Prosaform?

Das ist natürlich das, was keine Versfom ist. Und was ist ein Vers?
Tja, ähm. Das ändert sich halt dauernd. Aber scheinbar weiß man immer, was ein Vers ist. Egal, ob der Reim vom Stabreim an Ende wandert, ob man Perioden und Hexameter benutzt oder Sägezahn und Paarreim, oder ob es nur um lexikalische und syntaktische Besonderheiten geht - immer haben die Menschen zu jeder Zeit eine bestimmte Vorstellung von liedhafter, bzw. lyrischer Sprache gehabt, die diese von "normaler" Sprache absondert.
Und diese "normale" Sprache ist Prosa, egal ob und wie sich dabei schriftliche Prosa von mündlicher Prosa unterscheidet. Sowohl in den Wahlverwandtschaften als auch in Wilhelm Meister werden die Grenzen von Prosa und Lyrik manchmal vermischt. Goethe hatte ein hervorragendes Gefühl für Klang und Rhythmus der Sprache. Man muß nur im Hinterkopf behalten, daß er (hessischer) Frankfurter mit sächsischem Sprachunterricht war. Sonst kommt man noch auf die Idee, in Wörtern wie "ewgen", "neige" und "Segen" ein 'g' statt eines 'sch' zu lesen. Und dann passen nicht nur die Reime im Faust oder in manchen Liebesgedichten nicht mehr. Dann verliert man auch ganze wunderschön rhythmisierte Absätze in Wilhelm Meister. Dialekt hat ja nicht nur eigene Allophone, sondern auch eine eigene Prosodie.
Aber wie man das, dieses Lyrischsein, oder eben dieses Prosasein, nun eigentlich "vermessen", also anhand klarer falsifizierbarer Kriterien definieren soll, ist eine Frage für die Götter und, wenn überhaupt, dann nur sprachspezifisch zu lösen.

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