Zettel fragt gerne, ob schon jemand aufgrund der verschärften Gesetzeslage zur Terrorabwehr durch staatliche Stellen geschädigt wurde. Nun gibt es da ein Beispiel, das nicht mit Onlinedurchsuchungen zu tun hat, sondern mit ganz "klassischen" Ermittlungsmethoden, das aber nichtsdestoweniger zu denken gibt.
Zitat von SternTatsächlich scheint die besondere Gefahrenprognose bezüglich Marouane S. zumindest anhand der bislang vorgelegten Belege wenig plausibel. Die "verdächtigen Personen", die Marouane S. am Samstagmittag vor seiner Wohnung entdeckt und der Polizei gemeldet hatte, waren Ermittler des bayerischen Staatsschutzes. Sie hatten den Mann seit längerem im Visier und dabei offenbar nicht mehr festgestellt, als dass er bis zum Mai dieses Jahres Kontakt zu einer Person hatte, die irgendwann im Jahr 2003 einmal Kontakte zu Bekkay Harrach hatte. Jenem Islamisten, der kurz vor der Bundestagswahl per Video zum Dschihad gegen Deutschland aufrief und seit 2007 im Verdacht steht, Kontakte zu Osama bin Laden zu haben.
Besonders schön: der junge Mann fühlte sich verfolgt und bedroht und sah eines Morgens einen verdächtigen Wagen mit ebensolchen Insassen vor seiner Tür. Entsprechend wählte er die 110 und informierte die Polizei. Kurz darauf wurde er von den besagten Autoinsassen festgenommen, die ihn tatsächlich verfolgt hatten - als Polizeibeamte.
Zitat von SternAls Beleg für das konspirative Handeln von Marouane S. notieren die Beamten in ihrem Observationsbericht, der Betroffene habe am 25. September 2009 auf dem Weg zur Moschee "ständig seine Umgebung geprüft". Außerdem habe die "Zielperson" bei einem Treffen mit einem anderen Verdächtigen "mehrfach das Tempo gewechselt und versucht, Verfolger abzuschütteln".
Dass das einfach daran lag, dass irgendwelche Leute in Zivil ihn beschatteten, scheint niemandem in den Sinn gekommen zu sein. Wenn ich auf der Straße merke, dass einer hinter mir her wandert, versuche ich auch, ihn abzuschütteln - und das völlig ohne einen Anschlag auf das Oktoberfest zu planen.
Im letzten Absatz wird eine Aussage von Herrn S.' Anwältin zitiert, die ich Zettel besonders ans Herz legen will:
Zitat von SternIn ihrem Beschluss zur vorsorglichen Ingewahrsamnahme heißt es: "An die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist." Dass man im Fall eines befürchteten Terroranschlags ganz und gar auf Beweise verzichten kann, wäre für Ricarda Lang eine Interpretation des Rechts, die einem Freibrief gleichkäme. "Wenn man so argumentiert, und das Ganze noch mit haltlosen Behauptungen begründet, dann darf sich in Deutschland niemand mehr sicher fühlen."
Die Rechtsgrundlage ist aber - soweit ich mich erinnern kann - schon alt und wurde mal eingeführt, um Hooligans vor Fußballspielen für ein paar Tage einkassieren zu können. Für die Terrorismusabwehr ist eine Festsetzung für nur ein paar Tage ja auch wirklich untauglich. Übrigens erinnere ich mich nicht, daß es bei der Einführung dieser Maßnahme zur Hooliganbekämpfung eine große Diskussion gegeben hätte. Wieso nicht? Sind Hooligans gefährlicher als Terroristen? Oder einfach nur unsympathischer?
Im übrigen kann eine in einem Einzelfall falsch angewendete Maßnahme kein Argument gegen die Maßnahme selbst sein, sonst dürfte ja niemand mehr vor Gericht gestellt, verurteilt, inhaftiert werden usw.
Zitat von Robert Z.Die Rechtsgrundlage ist aber - soweit ich mich erinnern kann - schon alt und wurde mal eingeführt, um Hooligans vor Fußballspielen für ein paar Tage einkassieren zu können. Für die Terrorismusabwehr ist eine Festsetzung für nur ein paar Tage ja auch wirklich untauglich. Übrigens erinnere ich mich nicht, daß es bei der Einführung dieser Maßnahme zur Hooliganbekämpfung eine große Diskussion gegeben hätte. Wieso nicht? Sind Hooligans gefährlicher als Terroristen? Oder einfach nur unsympathischer?
Mein Problem ist die Verhältnismäßigkeit und der Maßstab, der an die Anwendung dieser Maßnahme angelegt wird. Ich nehme an, dass nur bereits aufgefallene und/oder verurteilte Hooligans einkassiert werden, oder? Wenn so eine Maßnahme gegen jemanden ergriffen wird, der jemanden kennt, der wiederum einen Hooligan kennt, dann sehe ich die Verhältnismäßigkeit nicht.
Zitat von Robert Z.Im übrigen kann eine in einem Einzelfall falsch angewendete Maßnahme kein Argument gegen die Maßnahme selbst sein, sonst dürfte ja niemand mehr vor Gericht gestellt, verurteilt, inhaftiert werden usw.
Stimmt. Darum ist mir die nachträgliche Überprüfbarkeit solcher Maßnahmen wichtig. Hier geht das, aber bei Zensursulas Internetsperrliste nicht (die soll geheim sein), ebenso wenig bei der Online-Durchsuchung (wenn da keine Verdachtsmomente herauskommen, erfährt das Ziel nie, dass der Rechner durchwühlt worden ist).
Hier nur darauf zu vertrauen, dass die Richter ihren Job schon gut machen, ist mir ein bisschen wenig.
-- Las ideas tontas son inmortales.
Cada nueva generación las inventa nuevamente. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
Zitat von GorgasalZettel fragt gerne, ob schon jemand aufgrund der verschärften Gesetzeslage zur Terrorabwehr durch staatliche Stellen geschädigt wurde. Nun gibt es da ein Beispiel, das nicht mit Onlinedurchsuchungen zu tun hat, sondern mit ganz "klassischen" Ermittlungsmethoden, das aber nichtsdestoweniger zu denken gibt.
Es hat, wie Sie richtig schreiben, nichts mit der verschärften Gesetzeslage zu tun. Wenn (was ich bezweifle: s.u.) der Bericht von Manuela Pfohl überhaupt etwas belegt, dann am ehesten dies, daß Behörden sich irren können.
Mir scheint aber der Bericht überhaupt nichts herzugeben, das zu Bedenken Anlaß geben würde. Der Bericht von Frau Pfohl stützt sich offenbar überwiegend, vielleicht ausschließlich auf das, was sie von der Anwältin Ricarda Lang erfahren hat. Gespräche mit Ermittlern oder der Staatsanwaltschaft scheint sie jedenfalls nicht geführt zu haben.
Welche Verdachtsmomente gegen Marouane S. vorlagen, geht aus dem Bericht nicht hervor. Es werden einzelne Schnipsel aus dem Observationsbericht und dem Beschluß des Amtsgerichts München zitiert; ob das alles ist, was gegen S. vorliegt, bleibt offen.
Wie einseitig der Bericht ist, geht zB aus dieser Passage hervor:
Zitat von SternAls Beleg für das konspirative Handeln von Marouane S. notieren die Beamten in ihrem Observationsbericht, der Betroffene habe am 25. September 2009 auf dem Weg zur Moschee "ständig seine Umgebung geprüft". Außerdem habe die "Zielperson" bei einem Treffen mit einem anderen Verdächtigen "mehrfach das Tempo gewechselt und versucht, Verfolger abzuschütteln". Möglicherweise, so wird spekuliert, um "Freiraum für Aktivitäten" zu gewinnen. Dass dieses Treffen inzwischen vier Monate zurückliegt, ficht die zuständige Ermittlungsrichterin am Amtsgericht München nicht an.
Ja, sollte es sie denn "anfechten"? Natürlich ist solches Verhalten ein Indiz dafür, daß jemand konspirativ arbeitet und zB auch in solchen Techniken des Abschüttelns trainiert ist. Ob das nun gestern beobachtet wurde oder vor vier Monaten, spielt für die potentielle Gefährlichkeit des Betreffenden keine Rolle.
Die Verfassungsschützer und das BKA müßten, lieber Gorgasal, doch mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wenn sie alle ihre geheimdienstlichen Erkenntnisse in die Öffentlichkeit hinausposaunen würden. Was neben dem Observationsbericht, der (oder Auszüge aus dem) der Autorin Pfohl vorlag, sonst noch alles an Erkenntnissen über S. existiert, scheint mir völlig offen zu sein.
Fraglich erscheint mir, ob man ihn gleich in Gewahrsam hätte nehmen müssen. Wenn ich mich recht erinnere, gibt es zB bei Staatsbesuchen die Möglichkeit, bekannten Gefährdern bestimmte Auflagen zu machen, sie regelmäßig seitens der Polizei zu besuchen usw. Mag sein, daß das ausgereicht hätte.
Und mein ceterum censeo: Was, wenn auf dem Oktoberfest eine Bombe hochgegangen wäre? Hätten dann findige Journalisten nicht vielleicht S. ausfindig gemacht und den Behörden den Vorwurf gemacht, daß sie jemanden mit terroristischen Kontakten unbehelligt gelassen hatten?
Zitat von ZettelMir scheint aber der Bericht überhaupt nichts herzugeben, das zu Bedenken Anlaß geben würde.
Hm, jetzt geben Sie mir Anlass zu Bedenken. Da wird ein Familienvater mal eben einfach so zehn Tage lang eingebuchtet, ohne Anklage, ohne zuvor irgendwelche Straftaten begangen zu haben oder auch nur solcher verdächtig zu sein. Und Sie haben da überhaupt gar keine Bedenken?
Zitat von ZettelWelche Verdachtsmomente gegen Marouane S. vorlagen, geht aus dem Bericht nicht hervor. Es werden einzelne Schnipsel aus dem Observationsbericht und dem Beschluß des Amtsgerichts München zitiert; ob das alles ist, was gegen S. vorliegt, bleibt offen.
Stimmt. Mich wundert nur, wie schnell Sie daraus schließen, dass es sicherlich noch mehr gibt. Dem mag ja durchaus so sein, aber vielleicht eben auch nicht. Hätten Sie dann Bedenken?
Zitat von Zettel
Zitat von SternAls Beleg für das konspirative Handeln von Marouane S. notieren die Beamten in ihrem Observationsbericht, der Betroffene habe am 25. September 2009 auf dem Weg zur Moschee "ständig seine Umgebung geprüft". Außerdem habe die "Zielperson" bei einem Treffen mit einem anderen Verdächtigen "mehrfach das Tempo gewechselt und versucht, Verfolger abzuschütteln". Möglicherweise, so wird spekuliert, um "Freiraum für Aktivitäten" zu gewinnen. Dass dieses Treffen inzwischen vier Monate zurückliegt, ficht die zuständige Ermittlungsrichterin am Amtsgericht München nicht an.
Ja, sollte es sie denn "anfechten"? Natürlich ist solches Verhalten ein Indiz dafür, daß jemand konspirativ arbeitet und zB auch in solchen Techniken des Abschüttelns trainiert ist.
Nehmen Sie es mir nicht übel, aber dieser Argumentation kann ich nun überhaupt nicht folgen.
Stellen Sie sich vor, Sie sind unterwegs und merken, dass jemand Sie verfolgt, wahrscheinlich zwei Leute. Was machen Sie? Stellen Sie die beiden zur Rede? Gehen Sie zur Polizei (und lassen sich auslachen)? Oder wechseln Sie mehrfach das Tempo und versuchen, die beiden abzuschütteln? Vielleicht bin ich da merkwürdig, aber letzteres erscheint mir als die natürlichste Reaktion. Und das, obwohl ich weder einen Anschlag plane noch in Techniken des Abschüttelns trainiert bin. Fazit: das Abschütteln alleine unterscheidet nicht zwischen einem Terroristen und einem friedliebenden Familienvater, es sagt rein gar nichts aus, es hilft überhaupt nicht bei der Entscheidung, jemanden zehn Tage lang mal eben festzusetzen.
Und: der junge Mann hat, als er die Zivilfahnder vor seinem Haus sah, die 110 angerufen. Ist das auch ein Indiz dafür, dass er konspirativ arbeitet? Weil er ganz diabolisch schlau ist und sich für das Verfahren schon einen guten Ausgangspunkt schaffen will?
Zitat von ZettelDie Verfassungsschützer und das BKA müßten, lieber Gorgasal, doch mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wenn sie alle ihre geheimdienstlichen Erkenntnisse in die Öffentlichkeit hinausposaunen würden. Was neben dem Observationsbericht, der (oder Auszüge aus dem) der Autorin Pfohl vorlag, sonst noch alles an Erkenntnissen über S. existiert, scheint mir völlig offen zu sein.
Desto wichtiger ist es, wenn solch ein eklatanter Eingriff in die Freiheit eines Menschen zumindest nachträglich gerichtlich untersucht werden kann.
Zitat von ZettelUnd mein ceterum censeo: Was, wenn auf dem Oktoberfest eine Bombe hochgegangen wäre? Hätten dann findige Journalisten nicht vielleicht S. ausfindig gemacht und den Behörden den Vorwurf gemacht, daß sie jemanden mit terroristischen Kontakten unbehelligt gelassen hatten?
Völlig richtig. Und genau diese Gedanken hat man sich im Münchner Innenministerium sicher auch gemacht. Meinen Sie nicht, dass da vielleicht ein gewisses, sagen wir "Interesse" daran bestand, derzeit die Gesetzeslage vielleicht ein kleines bisschen mehr contra reum auszulegen? Nein, genau das müssen Sie gar nicht meinen, genau das steht im Beschluss zur Ingewahrsamsnahme drin. Und Sie haben überhaupt gar keine klitzekleinen Bedenken, dass hier vielleicht jemand im Eifer des Gefechts über das Ziel hinausgeschossen ist?
Und Sie sind noch immer völlig entspannt, wenn Leuten mit derlei Anreizstrukturen ("wenn ich einen zuwenig festsetze, gibt es einen Anschlag, und mein Kopf rollt - wenn ich einen zuviel festsetze, muss ich einmal vor Gericht aussagen, und die taz schreibt einen Artikel über mich") die Machtmittel zur Verfügung gestellt werden, die aktuell diskutiert werden?
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Cada nueva generación las inventa nuevamente. - Nicolás Gómez Dávila, Escolios a un Texto Implícito
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