Ich bin, nach cartesianischem Vorbild, von der Erfahrung ausgegangen, daß wir im Traum eine Realität erleben, die sich nach dem Erwachen als irreal erweist. Schriftsteller haben mit dieser Realität des Traums, und den aus ihr hervorgehenden Zweifeln an der Realität von Wacherleben, als Stilmittel gespielt.
Daran habe ich einige Überlegungen zu der gegenseitigen Durchdringung von dargestellter Realität und dargestellter Fiktion in den Medien geknüpft. Auch was über die Medien - und insofern aus zweiter Hand - erfahren wird, kann phänomenale Realität haben, und das ist keine Erfindung des Medienzeitalters.
Es handelt sich um die Realität alles dessen, was die eigene, individuelle Erfahrung übersteigt und das deshalb nur durch die soziale Umwelt als real konstituiert werden kann. Am Beispiel des Paranoikers habe ich zu zeigen versucht, daß eine individuell konstruierte Welt, die auf diese gesellschaftliche Gewährleistung ihrer Realität verzichtet, auch dann Wahncharakter haben kann, wenn zu ihrer Konstruktion aus zutreffenden Beobachtungen logisch zu rechtfertigende Schlüsse gezogen werden.
Das führte zu der Frage, ob etwa die Realität, da durch gesellschaftlichen Konsens konstituiert, nichts anderes als Ausdruck dieses gesellschaftlichen Konsenses ist; mit der Konsequenz, daß wir so viele Realitäten zu akzeptieren haben, wie es gesellschaftliche Gruppierungen gibt, die solche Konstruktionen tragen.
Ich habe diese Frage als eine aktuelle Frage erörtert; aktuell wegen der Strömungen, für die ich das gängige Etikett "postmodern" benutzt habe. Damit sollte eine Haltung bezeichnet werden, die in allen ihren - im einzelnen natürlich sehr verschiedenen - Spielarten dies gemeinsam hat, daß man eine eigenartige Form von Toleranz pflegt.
Ihre Grundlage ist nicht die Einsicht, daß man selbst Unrecht und ein anderer Recht haben könnte und deshalb alle die Möglichkeit haben müssen, die Richtigkeit ihrer Auffassung unter Beweis zu stellen. Die Toleranz, die mir hier statt dessen vorzuliegen scheint, möchte ich mit Anleihe an einen ähnlich klingenden Begriff aus den sechziger Jahren als resignative Toleranz bezeichnen. Sie verzichtet auf die Auseinandersetzung, weil sie jeder Gruppierung ihre eigene Wahrheit zuweist, die man ihr nicht nehmen möchte, ja gar nicht nehmen kann.
Ich habe Skepsis in Hinsicht auf die Stabilität einer so begründeten Toleranz geäußert. Wenn jede Gruppierung über ihre eigene Wahrheit verfügt, kann Wahrheit leicht zur Verfügungsmasse dieser Gruppierung (und zum Mittel der Herrschaft über ihre Mitglieder) werden. Ein Wahrheitsbegriff, der Wahrheit so eng mit Interesse verknüpft, führt leicht dazu, daß Wahrheit in den Dienst des Interesses gestellt wird. Ich habe das mit dem Beispiel des Marxismus illustriert.
Daß Erkenntnis in den Dienst des Interesses gestellt wird, ist natürlich nicht auf diese besonders krasse Spielart beschränkt. Die heutigen medialen Möglichkeiten bieten sich dafür an, machen es aber auch besonders offensichtlich. Eine Reaktion darauf ist das verbreitete Grundmißtrauen gegen alles, was im öffentlichen Raum als Wahrheit angeboten wird; mit der eigenartigen Kehrseite, daß Behauptungen von Personen und Gruppen, die sich als alternativ zu dieser offiziellen Öffentlichkeit darstellen, oft auf leichtgläubige Akzeptanz treffen.
Da das Thema von Erkenntnis und Interesse alt ist, habe ich an dieser Stelle einen historischen Exkurs eingeschoben, in Gestalt eines Verweises auf Schopenhauers Philippika gegen Fichte, Hegel und Schelling. (Daß er mit seinem Vorwurf, sie stellten die Erkenntnis in den Dienst ihres Interesses, jedenfalls bei Fichte auch auf der persönlichen Ebene nicht ganz falsch lag, zeigt übrigens der Eiertanz, den dieser im sogenannten Atheismusstreit 1798/99 aufführte - als Philosoph Atheist, als Beamter im Dienste vierer Herzogtümer gut gottgläubig).
Der Rückgriff auf Schopenhauer sollte auch die Brücke zum nächsten Thema schlagen, einigen abschließenden Überlegungen zum Realitätsproblem in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte.
Die Rolle von Wahrnehmungstäuschungen in der Erkenntnistheorie und in der Psychologie läßt eine interessante Parallele erkennen: Täuschungen in bestimmten Fällen werden als in gewisser Hinsicht repräsentativ für sinnliche Erkenntnis schlechthin verstanden. Dabei wird, wie Gibson hervorgehoben hat, die besondere Situation übersehen, in der Täuschungen in der Regel auftreten. Sie entstehen, wenn die sensomotorischen Verbindungen nicht oder nicht hinreichend funktionieren, über die normalerweise Wahrnehmung und Handeln aufeinander abgestimmt werden.
Das ist der für unser Thema fundamentale Sachverhalt. In der wissenschaftlichen Forschung nennen wir das hypothesengeleitetes Experimentieren und empirisches Validieren von Hypothesen. Die Geschichte der empirischen Wissenschaften zeigt, daß auf diese Weise kumulativ - in einem Prozeß, an dem Euklid und Eratosthenes ebenso mitgewirkt haben wie Descartes, Newton und die heutigen Wissenschaftler - ein Bild der Realität entsteht, das überhaupt nicht den Charakter einer gesellschaftlichen Konstruktion hat. Dieses Bild der Realität gründet sich nicht auf den Konsensus innerhalb irgendeiner Gruppe, sondern auf seine Konsequenzen für das Handeln. Sie sind für jeden dieselben, der sich in die betreffende Handlungssituation begibt.
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