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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 11 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

29.06.2010 00:28
Bundesversammlung, Bundespräsident, Parlamentarischer Rat Antworten

Einen solchen Artikel werden Sie in der Presse wahrscheinlich nicht finden: Gilbert (hier im Forum bekannt als "gelegentlicher Besucher") hat die Protokolle des Parlamentarischen Rats durchgesehen und zeichnet in diesem Gastbeitrag nach, wie die beiden Institutionen des Bundespräsidenten und der Bundesversammlung ihre heutigen Konturen gewannen.

Wenn ich einmal pro domo schreiben darf: Unbedingt lesenswert!

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

29.06.2010 16:59
#2 RE: Bundesversammlung, Bundespräsident, Parlamentarischer Rat Antworten

Zitat von Zettel
Gilbert (hier im Forum bekannt als "gelegentlicher Besucher") hat die Protokolle des Parlamentarischen Rats durchgesehen und zeichnet in diesem Gastbeitrag nach, wie die beiden Institutionen des Bundespräsidenten und der Bundesversammlung ihre heutigen Konturen gewannen.


Mir ist, lieber Gilbert, beim Lesen Ihres schönen Artikel u.a. dies durch den Kopf gegangen:

-- Eine Verfassung zu konstruieren, das ist ein bißchen wie das Konstruieren eines Autos oder, sagen wir, eines Weltraumfahrzeugs. Es gilt viele konstruktive Einzelentscheidungen zu treffen, und am Ende soll alles passen und zusammenarbeiten. Aber die Ingenieure können Testfahrten und Testflüge machen. Die Väter einer Verfassung können das nicht. Es muß alles auf Anhieb passen.

In der amerikanischen Verfassung hat es - worüber ich nicht genug staunen kann - auf Anhieb gepaßt. Auch beim Grundgesetz. Das ist bemerkenswert, weil es eben gar nicht selbstverständlich ist. Die Weimarer Verfassung hat nicht gut funktioniert, diejenige der französischen Vierten Republik war eine Katastrophe. Wie haben die 55 plus 5 Männer und Frauen das so gut hinbekommen?


-- Zweitens fällt mir auf, daß alles auch ganz anders hätte werden können. Die FDP konnte sich, wie Sie schreiben, am Ende (als es zu spät war) doch für ein Präsidialsystem erwärmen. Hätte sie es doch früher getan und sich durchgesetzt! Denn die Weimarer Verfassung war ja nicht wegen der starken Stellung des Reichspräsidenten schlecht, sondern wegen der Parteienvielfalt, die eine Folge des Wahlrechts war. Das Problem des Präsidentenamts waren nicht dessen verfassungsmäßigen Rechte, sondern es war die Person Hindenburg.

Wir hatten das Glück, daß wir trotz des Grundgesetzes jahrzehntelang faktisch so etwas wie ein Präsidialsystem hatten; eine "Kanzlerdemokratie". Das lag an den herausragenden Kanzlern, die wir hatten - Adenauer, Brandt, Schmidt, Kohl, jetzt Merkel. Es lag zweitens vor allem aber daran, daß es trotz des Verhältniswahlrechts stabile Mehrheiten gab, solange weder Rechts- noch Linksextreme in den Parlamenten eine Rolle spielten.

Damit ist es jetzt vorbei. Mir wäre um die Zukunft Deutschlands weniger bange, wenn wir ein Präsidialsystem hätten wie in den USA oder Frankreich; dazu das Mehrheitswahlrecht.


-- Ein dritter Punkt ist, daß ich mich frage, was wohl jemand wie Thomas Dehler zur heutigen Verfassungswirklichkeit sagen würde. War es das, was man sich in der Pädagogischen Akademie in Bonn vorgestellt hatte? Die Herrschaft der Parteien hatte man so, wie sich sich entwickelt hat, vermutlich nicht gewollt. Daß der Bundespräsident derart schwach wird, wie sich das ergeben hat, das hatte man vermutlich auch nicht gewollt. Und vermutlich hatte man sich auch nicht vorstellen können, in welchem Maß heutzutage der Bundesrat in die Bundespolitik hineinregiert.


-- Und eine letzte Anmerkung: Die SPD war damals, wie Sie es beschreiben, die am wenigsten föderalistische Partei. Sie war auch die nationalistischste. Kurt Schumacher hat Adenauer in einem Zwischenruf im Bundestag den "Kanzler der Alliierten" genannt. Die SPD war mehrfach bereit, die Westbindung für eine Wiedervereinigung unter den Bedingungen der SED in Frage zu stellen. Das Werk der Einigung Europas war dasjenige der Christdemokraten, unter scharfer Ablehnung durch die SPD.

Immerhin war die SPD Kurt Schumachers antikommunistisch, ohne jedes Wackeln. Daß diese Partei einmal unter dem Nachfolger Schumachers Sigmar Gabriel auf eine Volksfront mit den Kommunisten zusteuern würde, hätte 1949 wohl nicht nur Kurt Schumacher für ausgeschlossen gehalten.

Herzlich, Zettel

SG Offline



Beiträge: 37

29.06.2010 21:51
#3 Parlamentarischer Rat und Fraktionsdisziplin Antworten

So ganz stimmt das mit der ergebnisoffenen Beratung im Parlamentarischen Rat nicht. Ich habe dazu vor ein paar Jahren einen Beitrag geschrieben: http://www.zpolcms.de/index.php?option=c...sk=ExecuteQuery

Bei den Fragen, die damals für die Öffentlichkeit von Interesse waren, haben alle Parteien versucht, sich vorab auf eine Linie zu einigen. Das Grundgesetz selbst konnte nur zustande kommen, weil einige verantwortungsbewusste Politiker sich auf einen Kompromiss geeinigt haben - in der Sache eine Grundgesetz-Koalition, wobei einige Parteien (am bedeutendesten: die CSU) von den Koalitionären absichtlich außen vor gelassen worden sind, weil ihre Positionen als zu extrem (bzw. ihr Verhalten als zu wenig kompromissbereit) galt.

Übrigens findet die Wahl des Bundeskanzlers im Bundestag auch "ohne Aussprache" statt, so besonders ist dieser Modus also nicht.

SG Offline



Beiträge: 37

29.06.2010 21:54
#4 RE: Bundesversammlung, Bundespräsident, Parlamentarischer Rat Antworten

Zitat
Ein dritter Punkt ist, daß ich mich frage, was wohl jemand wie Thomas Dehler zur heutigen Verfassungswirklichkeit sagen würde. War es das, was man sich in der Pädagogischen Akademie in Bonn vorgestellt hatte? Die Herrschaft der Parteien hatte man so, wie sich sich entwickelt hat, vermutlich nicht gewollt.


Doch. Ich untersuche genau diese Fragestellung seit einigen Jahren. Die Protokolle der Beratungen 1948/49 lassen durchweg erkennen, dass eine Mehrheit der Ratsmitglieder die Parteiendemokratie wollte. Dehler selbst hat gesagt, das Ziel müsse sein die "Herrschaft einer bestimmten Gruppe auf eine bestimmte Zeit" (aus dem Gedächtnis zitiert).

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

29.06.2010 22:50
#5 RE: Parlamentarischer Rat und Fraktionsdisziplin Antworten

Zitat von SG
Ich habe dazu vor ein paar Jahren einen Beitrag geschrieben:


Der Link funktioniert bei mir nicht: "Es war nicht möglich ihren Query auszuführen"

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

29.06.2010 22:57
#6 RE: Bundesversammlung, Bundespräsident, Parlamentarischer Rat Antworten

Zitat von SG

Zitat
Ein dritter Punkt ist, daß ich mich frage, was wohl jemand wie Thomas Dehler zur heutigen Verfassungswirklichkeit sagen würde. War es das, was man sich in der Pädagogischen Akademie in Bonn vorgestellt hatte? Die Herrschaft der Parteien hatte man so, wie sich sich entwickelt hat, vermutlich nicht gewollt.


Doch. Ich untersuche genau diese Fragestellung seit einigen Jahren. Die Protokolle der Beratungen 1948/49 lassen durchweg erkennen, dass eine Mehrheit der Ratsmitglieder die Parteiendemokratie wollte. Dehler selbst hat gesagt, das Ziel müsse sein die "Herrschaft einer bestimmten Gruppe auf eine bestimmte Zeit" (aus dem Gedächtnis zitiert).


Kann man, lieber SG, dazu im Web Einzelheiten lesen?

Die Formulierung von Dehler, die Sie zitieren, klingt mir zunächst einmal nur wie die geläufige Definition von Demokratie als "Herrschaft auf Zeit", mit Betonung auf "auf Zeit".

Meine Frage ging dahin, ob den Parteien, die ja nach der damaligen Formulierung nur "bei der politischen Willensbildung mitwirken" sollten, wirklich die zentrale Rolle zugedacht war, die sie heute spielen.

Also: Nicht die Regierungserklärung des gewählten Kanzlers legt das Regierungsprogramm fest, sondern ein "Koalitionsvertrag", den die Parteispitzen (noch nicht einmal die Fraktionsspitzen) aushandeln. Wichtige Fragen werden nicht im Kabinett entschieden, sondern in einem "Koalitionsausschuß". Die Richter des BVerfG werden nach Parteiproporz gewählt, die Intendanten und Chefredakteure der Rundfunkanstalten; und eben auch die Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten werden von den Parteispitzen hinter verschlossenen Türen ausgekungelt.

War das wirklich alles so vom Parlamentarischen Rat gewollt?

Herzlich, Zettel

Gilbert Offline



Beiträge: 70

30.06.2010 00:50
#7 RE: Parlamentarischer Rat und Fraktionsdisziplin Antworten

Der Link geht bei mir nicht, aber ich bin mir ziemlich sicher es ist dieser Artikel:
http://www.zpolcms.de/zpol_aufsaetze/407SW_Galka.pdf


Dagegen habe ich nichts zu sagen, allein wo der Widerspruch zu meinen Ausführungen sein soll ist mir noch nicht ganz klar. Ich habe ja bewusst nicht nur Debatte sondern auch Diskussion geschrieben. Umgekehrt kann man natürlich auch sagen nicht nur Diskussion sondern auch Debatte. Die Beratungen waren natürlich nicht in dem Sinne ergebnisoffen, das alle Ergebnisse offen gewesen wären. Aber manche eben doch, wie man eben daran erkennt, dass einiges mehrfach hin und zurück geändert wurde. Und da geht es auch nicht nur um Kommata.

Zitat von SG
Bei den Fragen, die damals für die Öffentlichkeit von Interesse waren, haben alle Parteien versucht, sich vorab auf eine Linie zu einigen.


Hab' ich ja auch gesagt:

Zitat von Gilbert
Die Parteien hatten zwar relativ einheitliche Positionen[...]



Zitat von SG
Das Grundgesetz selbst konnte nur zustande kommen, weil einige verantwortungsbewusste Politiker sich auf einen Kompromiss geeinigt haben - in der Sache eine Grundgesetz-Koalition


Ja, aber. Der Fünferausschuss wurde doch erst gebildet als ganz große Teile des GGs -z.B. die, von denen ich hier geschrieben habe- schon fertig waren. Vieles hatte man also durchaus schon in den normalen Diskussionen festgeklopft. Und ein Teil des Grundes (nicht der ganze Grund) für den Fünferausschuss war ja, das es plötzlich schnell gehen musste. Adenauer hatte ja die Sorge, dass die Aliierten zu lange Verhandlungen nicht mehr ernstnehmen und sich evtl. doch mit den Russen einigen würden.

Zitat von SG
Übrigens findet die Wahl des Bundeskanzlers im Bundestag auch "ohne Aussprache" statt, so besonders ist dieser Modus also nicht.


Die dann allerdings bei der Regierungserklärung nachgeholt wird. Aber es stimmt schon, das habe ich hauptsächlich für den etymologischen Gag aufgenommen.

Gilbert Offline



Beiträge: 70

30.06.2010 01:50
#8 RE: Bundesversammlung, Bundespräsident, Parlamentarischer Rat Antworten

Beim Funktionieren habe ich den Verdacht, dass es auch die formale Verfassung weniger ankommt als man denkt. Weitgehende Kopien der amerikanischen Verfassung sind ja in Südamerika gescheitert. Andererseits hat der österreichische Bundespräsident auf dem Papier Kompetenzen die mit dem des weimarer Reichspräsidenten durchaus mithalten können, dort sind sie aber eine Notfallreserve geblieben und nicht wie in Weimar der Regelfall der Politik geworden.

Zitat
Zweitens fällt mir auf, daß alles auch ganz anders hätte werden können. Die FDP konnte sich, wie Sie schreiben, am Ende (als es zu spät war) doch für ein Präsidialsystem erwärmen. Hätte sie es doch früher getan und sich durchgesetzt!


Das ist jetzt natürlich sehr spekulativ. Aber ich nehme an, wenn sie es früher vorgeschlagen hätte, hätte man ausführlicher darüber diskutiert - es am Ende aber doch genauso deutlich abgelehnt. Selbst innerhalb der FDP war der Vorschlag auch nicht unumstritten. Es gab schon eine Art stillschweigenden Grundkonsens und dem wäre etwas anderes als ein paralmentarisches System komisch erschienen. Im Grunde wie heute eben auch.

Zitat
Damit ist es jetzt vorbei. Mir wäre um die Zukunft Deutschlands weniger bange, wenn wir ein Präsidialsystem hätten wie in den USA oder Frankreich


So präsidial wäre es dann auch wieder nicht gewesen. Der Vorschlag war so: Die Bundesversammlung wäre jeweils kurz nach der Bundestagswahl einberufen worden. Der Bundestagswahlkampf hätte sich dann schon zu einem guten Teil um den Bundespräsidenten drehen sollen. Der Bundespräsident wäre auf eine feste Amtszeit (bis auf ein paar Wochen Verschiebung die gleiche wie beim Bundestag) gewählt gewesen und hätte die Rechte des Kanzlers und des normalen Bundespräsidenten gehabt. Der Gesetzgebungsnotstand und das Haushaltsveto wären allerdings weggefallen. Der Bundestag wäre unauflöslich gewesen.

So ein Präsiden hätte z.B. schon sein Kabinett umbilden können ohne sonst jemanden zu fragen. Aber mit den Parlamentsfraktionen hätte er sich schon sehr stark arrangieren müssen, weil er in der Legislative eben nichts zu sagen gehabt hätte. Und die eigentliche Exekutive liegt ja in Deutschland zu einem ziemlich großen Teil bei den Ländern. Es wäre also ein Präsidialsystem gewesen, aber mit einem für ein Präsidialsystem doch sehr schwachen Präsidenten.

Ich fände so ein System übrigens gut, aber bei einem solchen Präsidenten würde ich eine Volkswahl schon für angebracht halten.

Zitat
dazu das Mehrheitswahlrecht


Das würden wir dann ja nicht mehr brauchen, dann wären wechselnde Mehrheiten ja unschädlich.

Zitat
Die Herrschaft der Parteien hatte man so, wie sich sich entwickelt hat, vermutlich nicht gewollt


In allen Details vielleicht nicht, aber im Prinzip war man sich schon klar, wie parlamentarische Demokratien funktionieren. Gegen das Problem mit dem Bundesratsveto gegen die Bundesversammlung kam z.B. der Einwand das würde man hinter den Kulissen im Voraus so abstimmen, das es nie zu einem Veto kommen würde. Der Möglichkeit von Koalitionen war man sich jedenfalls bewusst, obwohl die CDU gerne ein Mehrheitswahlrecht gehabt hätte. Wie man sich deren praktische Organisation vorgestellt hat, weiß ich allerdings nicht.

Zitat
Daß der Bundespräsident derart schwach wird, wie sich das ergeben hat, das hatte man vermutlich auch nicht gewollt.


Naja, die Situationen, für die er gedacht war, sind eben bisher nicht eingetreten. In parlamentarisch stabilen Zeiten war er schon so schwach geplant wir er auch ist. Wobei das dann schon wieder ein Grund für den FDP-Vorschlag war, sozusagen nach dem Motto "das kann der Kanzler auch selber mit erledigen".

Zitat
Immerhin war die SPD Kurt Schumachers antikommunistisch, ohne jedes Wackeln.


Praktisch ja. Da hat wohl auch die konkrete Erfahrung aus der Ostzone eine Rolle gespielt. Aber vom Programm her waren die damals noch schlimmer als die Linke. Was evtl. ein Grund zur Hoffnung ist:
Wenn die Altkader einmal ausgestorben und durch Karrieristen ersetzt sind, geht die bis dahin regierungsbeteiligte SED vielleicht einmal genauso flexibel mit ihrem Programm um.

SG Offline



Beiträge: 37

30.06.2010 06:39
#9 RE: Bundesversammlung, Bundespräsident, Parlamentarischer Rat Antworten

Doch, im Kern war das so vom Parlamentarischen Rat gewollt, bzw. von einer Mehrheit. Natürlich gab es auch dort Traditionalisten, denen das alles nicht gefiel. Aber man darf nicht vergessen: Der Parlamentarische Rat selbst bestand zu 100 % aus Parteipolitikern. (Übrigens war auch der Herrenchiemseekonvent im wesentlichen parteipolitisch zusammengesetzt und bei weitem nicht nur mit "Experten", sondern durchaus auch mit Politikern.) So gab es einige Traditionalisten in der CDU/CSU, denen der vermeintliche "Fraktionszwang" (in der Sache war es Fraktionsdisziplin) nicht gefiel. In der eigenen Fraktion erwarteten genau diese Ratsmitglieder aber, dass sich ihre Fraktionskollegen der Fraktionsdisziplin unterwarfen, mit der einfachen Begründung, dass man sonst ständig von der geschlossenen auftretenden Gegenseite überfahren wurde.

Beim Dehler-Zitat ist das entscheidende Wort "Gruppe". Es ging ihm um die Herrschaft dessen, was wir seit einigen Jahrzehnten "Regierungsmehrheit" nennen: die Funktionseinheit einer festen Parlamentsmehrheit mit der von dieser Parlamentsmehrheit gewählten Regierung. In der Idealvorstellung vieler Mitglieder des Rates sollte diese Parlamentsmehrheit dabei aus einer Partei bestehen, alternativ aus einer Koalition.

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

30.06.2010 07:55
#10 RE: Bundesversammlung, Bundespräsident, Parlamentarischer Rat Antworten

Zitat von SG
Beim Dehler-Zitat ist das entscheidende Wort "Gruppe". Es ging ihm um die Herrschaft dessen, was wir seit einigen Jahrzehnten "Regierungsmehrheit" nennen: die Funktionseinheit einer festen Parlamentsmehrheit mit der von dieser Parlamentsmehrheit gewählten Regierung. In der Idealvorstellung vieler Mitglieder des Rates sollte diese Parlamentsmehrheit dabei aus einer Partei bestehen, alternativ aus einer Koalition.


Wenn das so gewesen sein sollte, lieber SG - was hat man denn getan, um das herbeizuführen oder wenigstens wahrscheinlich zu machen?

Das Wahlrecht untertschied sich trotz des eingebauten Elements des Persönlichkeitswahlrechts via die Erststimme und trotz der 5-Prozent-Hürde im Ergebnis nicht wesentlich von dem Weimars. Daß es bis 2005 mit einer kurzen Unterbrechung immer eine stabile bürgerliche oder eine stabile SPD-geführte Regierung gegeben hatte, lag nicht am Grundgesetz, sondern an der politischen Entwicklung, unter der weder links- noch rechtsextreme Parteien es in den Bundestag schafften; sieht man vom anfänglichen Einzug einer bedeutungslosen KPD ab.

Heute nähern wir uns Weimarer Verhältnissen, was die Schwierigkeit einer Regierungsbildung angeht; siehe Hessen, NRW und demnächst vermutlich Bund.

Ich kann in dem Dehler-Zitat, auch wenn man den Akzent auf "Gruppe" legt (mir erscheint das "auf eine bestimmte Zeit" mindestens genauso wichtig), noch immer kein Konzept einer Parteienherrschaft entdecken, wie sie sich entwickelt hat. Sondern nur den Wunsch nach stabileren Verhältnissen als in der Weimarer Republik.

Herzlich, Zettel

SG Offline



Beiträge: 37

30.06.2010 11:27
#11 RE: Bundesversammlung, Bundespräsident, Parlamentarischer Rat Antworten

Die Frage nach dem Wahlrecht ist natürlich eine berechtigte Frage. Vieles spricht dafür, dass das Mehrheitswahlrecht zum angestrebten Regierungssystem besser gepasst hätte. Leider kann ich dazu noch nicht qualifiziert antworten, denn das ist Kapitel 4 meiner Diss. und kommt erst im Laufe dieses Sommers dran. Aber es war wohl auf jeden Fall so, dass in beiden großen Parteien die Meinungen geteilt waren. Die kleinen Parteien waren naturgemäß für Verhältniswahl. Am Ende haben aber auch die großen Parteien mal durchgerechnet, was denn Mehrheitswahl für ihre eigenen Ergebnisse gebracht hätte. Diese Beeinflussung der Ergebnisse des Parlamentarischen Rates durch die Tagespolitik war wohl kaum zu vermeiden.

Allerdings ist das Verhältniswahlrecht gar nicht im Grundgesetz verankert. Eine einfache Mehrheit reicht aus, um auf Bundesebene die Mehrheitswahl einzuführen. Im Rahmen einer Koalition einer großen mit einer kleinen Partei ist das natürlich nicht realistisch. Es müssten sich CDU/CSU und SPD einigen. Bei der ersten Großen Koalition (1966-1969) stand das ja auf der Agenda, wurde dann aber doch gekippt. Leider ist es 2005-2009 kein Thema mehr gewesen.

Zu dem Dehler-Zitat habe ich jetzt nochmal in den Quellen nachgesehen.

Dehler sagte: "Wir dürfen nicht vergessen: Jeder Regierungschef ist der Exponent einer Partei oder einer Parteigruppe; er ist von dieser Partei oder Parteigruppe abhängig, auch wenn er auf Zeit gewählt ist. [...] "[Die Engländer] haben ihre Regierung auf die Legislaturperiode. Der Führer der siegenden Partei ist der Herrscher für die fünf Jahre. Warum sollen wir das nicht auf anderem Wege erstreben?"

An dieser Stelle folgt ein Zwischenruf von Heiland: "Chamberlain ist durch Churchill abgelöst worden."

Dehler antwortete:
"Die herrschende Partei hat sich damals entschieden, den einen auszuschiffen und den anderen zu lancieren. Die Stabilität auf jeden Fall ist gewährleistet. [sic] Es ist die Herrschaft einer bestimmten Gruppe auf eine bestimmte Zeit. [...] Der auf Zeit gewählte Premier ist ja von dem Vertrauen des Parlaments getragen, er ist also ein demokratisch berufener Führer."
Die Zitate stammen aus dem Protokoll der Sitzung des Organisationsausschusses des Parlamentarischen Rates am 30.09.1948.

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

30.06.2010 11:56
#12 RE: Bundesversammlung, Bundespräsident, Parlamentarischer Rat Antworten

Zitat von gelegentlicher Besucher
Beim Funktionieren habe ich den Verdacht, dass es auch die formale Verfassung weniger ankommt als man denkt.


Völlig richtig.
Man vergleiche mal, wie gut Holland oder die Skandinavier mit Parteienvielfalt zurecht kommen - und wie schwer sich Deutschland oder Italien damit tun.

So wichtig manche Verfassungsgrundsätze wirken - in erster Linie wird die gelebte politische Realität von Traditionen und Mentalitäten eines Landes geprägt, nicht von den formal vorgeschriebenen Abläufen.

Im Zweifelsfall passiert nämlich immer das, was man auch aktuell sieht: Die wesentlichen Entscheidungen fallen informell, in Verfahren und mit Beteiligten, die in der Verfassung gar nicht vorkommen. Und dann wird das formal korrekt in den Gremien nachvollzogen.

Wer also Verfassungsartikel formuliert, die zu sehr von diesen politischen Realitäten abweichen - der fördert nur die Umgehung.

Konkret der Vergleich der Weimarer Republik mit der BRD zeigt m. E., wie unwichtig Verfassungsdetails sein können. Eine Verfassung in der Art des GG hätte keines der Probleme von Weimar lösen können, insbesondere die Machtübernahme durch die Nazis nicht verhindern können. Im Gegenteil hat die stärkere Stellung des Reichspräsidenten hier noch verzögernd gewirkt. Gerade ihn zu schwächen ist eine merkwürdige Reaktion der GG-Autoren.

Letztlich kann eigentlich keine demokratische Verfassung damit fertig werden, wenn Anti-Demokraten in der Mehrheit sein (und das war schon seit 1932 der Fall!).

Das GG sieht deswegen ja noch die Abwehrmöglichkeit des Parteienverbots vor. Aber die muß dann natürlich auch von den Demokraten genutzt werden!
Und dazu fehlt in der BRD der Konsens, weder NPD noch Linke dürften dem Geist des GG nach überhaupt legal existieren. Sollten die jemals kurz vor 50% sein, wäre ein Verbot überhaupt nicht mehr durchsetzbar - der Schritt zur Mehrheit und Macht wäre formal nicht zu verhindern.

Es ist ja auch ein Grundwiderspruch, daß in einer Demokratie zwar das Volk entscheiden soll - aber ein Mehrheitswunsch, diese Demokratie abzuschaffen illegal wäre.

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