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ZETTELS KLEINES ZIMMER

Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 5 Antworten
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Frank2000 Offline




Beiträge: 3.430

29.09.2015 16:33
Kishon: Aus absolut sicherer Quelle Antworten

Das wollte ich schon lange mal zitieren:
Eine gekürzte Fassung einer Kurzgeschichte von Kishon.
Entnommen aus: "Drehn sie sich um, Frau Lot!"
Leseprobe der vollständigen Kurzgeschichte hier:
http://www.herbig.net/uploads/tx_ttipcsh...be_Nachbarn.pdf
***


Aus absolut sicherer Quelle
Als ich eines Nachts um sieben Uhr durch wildes, hemmungsloses Klopfen an der Tür aus meinem Schlaf geschreckt wurde.

»Weißt du schon?«, fragte er atemlos.
»Nein«, antwortete ich mit halbgeschlossenen Augen. »Ich will schlafen.« Damit wandte ich mich ab und schlug, vor Müdigkeit torkelnd, den Weg zum ehelichen Schlafzimmer ein.

Mein Nachbar hielt mich an der Hose fest.
»Mensch!«, keuchte er. »Das Histadruthhaus ist in die Luft gegangen! Eine Katastrophe!«
»Wie gut müssen wir geschlafen haben, wenn uns nicht mal diese Explosion geweckt hat«, brummte ich gähnend.

»Auch ich habe nichts gehört«, gestand Manfred. »Aber Guggelmann sagt, dass ihm davon beinahe das Trommelfell geplatzt wäre. Er war schon um fünf bei mir und ist dann zu den Nachbarhäusern weitergelaufen.
Ich habe es übernommen, eure Gegend zu benachrichtigen, damit keine Panik entsteht. Guggelmann ist überzeugt, dass das Haus von Terroristen gesprengt wurde. Über den Ruinen liegen dicke Rauchschwaden. Manchmal sieht man noch kleine Stichflammen in die Höhe schießen.«

Es erschütterte mich, mir das einstmals so stolze Gebäude als rauchenden Trümmerhaufen vorstellen zu müssen.
Doch fiel mir gleichzeitig auf, dass mein Freund Manfred von der Wirkung seiner Nachricht so stolzgebläht war, als hätte ihm sein Chef auf die Schulter geklopft.
»Sag einmal, Manfred – was macht dich eigentlich so glücklich?«

Mittlerweile war ich so rettungslos wach geworden, dass ich die Fensterläden öffnete und in die Welt hinausblinzelte. Der neue Tag zog strahlend auf. Vom Mittelmeer wehte eine kühle Brise. Die Wäsche der Familie Kalaniot von nebenan trocknete auf unserem Rasen. Zwei junge Hunde jagten einander im Kreis. Von der Stadtmitte her grüßte das imposante Gebäude der Histadruth.

»Verzeih, wenn ich störe – aber die Explosion des Histadruthhauses scheint sich erst im Stadium der Planung zu befinden. Das Haus steht noch.«
Manfred versuchte mit seinen Pantoffeln verschiedene ellipsoide Figuren auf den Teppich zu zeichnen und sah mich nicht an.
»Das Haus ist vollkommen unbeschädigt«, sagte ich mit Nachdruck. »Hast du gehört?«
»Natürlich hab ich gehört. Ich bin ja nicht taub.«
»Willst du es dir nicht anschauen?«
»Nein. Das hat keinen Zweck. Es ist ja heute Nacht in die Luft gesprengt worden. Eine Katastrophe.«
»Aber du kannst es doch hier vom Fenster mit deinen eigenen Augen sehen!«
»Genug!«, brauste Manfred auf. »Du bist wirklich störrisch wie ein Maulesel! Nimm gefälligst zur Kenntnis, dass ich meine Information aus absolut sicherer Quelle habe!«

Die Wolke, die mich jetzt umfing, war nicht rauchig, sondern rot, blutig rot.
»Zum Teufel!«, brüllte ich. »Was stehst du da und erzählst mir Märchen, wo du doch nur ein paar Schritte zum Fenster machen musst, um dich selbst zu überzeugen –«
»Ich brauch mich nicht zu überzeugen. Guggelmanns Wort genügt mir.«
»Und wenn Guggelmann hundertmal sagt, dass –«

»Einen Augenblick!« Empört fiel mir Manfred ins Wort. »Willst du damit vielleicht andeuten, dass Guggelmann ein Lügner ist? Ausgezeichnet. Ich werde mir erlauben, ihm das mitzuteilen. Du kannst dich auf etwas gefasst machen!«
»Wer – was – wieso? Wer ist dieser Guggelmann überhaupt?!«
»Also bitte. Da haben wir’s. Er weiß nicht einmal, wer Guggelmann ist – aber er nennt ihn vor der ganzen Welt einen Lügner. Gehst du da nicht ein wenig zu weit?«

Ich sackte zusammen und brach in Tränen aus. Manfred strich mir teilnahmsvoll übers Haar.
»Falls du Wert darauf legst«, sagte er begütigend, »kann ich dir Augenzeugen bringen, die mit ihren eigenen Ohren gehört haben, wie Guggelmann gesagt hat, dass vom ganzen Histadruthgebäude nur ein paar Stichflammen übriggeblieben sind. Eine Katastrophe.«

»Aber hier – von diesem Fenster –«, wimmerte ich.
»Auch das Radio hat es gebracht, wenn dich das beruhigt.«
»Welches Radio?«
»Guggelmanns Radio. Das neueste auf dem Markt. Mindestens neun Röhren.«

Ein paar wahnwitzige Sekunden lang war ich drauf und dran, ihm zu glauben. Das menschliche Auge kann irren, aber Guggelmann bleibt Guggelmann …
Dann warf ich mich mit heiserem Röcheln auf Manfred Stockler und zerrte ihn ans Fenster:

»Da – schau!! Schauen sollst du!! Hinausschauen!!«
»Wozu?« Manfred schloss die Augen und krümmte sich in meinem eisernen Griff. »Wenn ich zum Fenster hinausschauen wollte, könnte ich ja zu meinem eigenen Fenster hinausschauen. Aber Guggelmann hat gesagt –«
»Schau – schau hinaus – schau – schau hinaus –«,
ich hatte mich in seinen Haaren festgekrallt und schlug seine Stirn im Takt gegen den Fensterrahmen, »schau hinaus und sag mir, ob sie das Haus in die Luft gesprengt haben oder nicht. Ob das Haus dasteht oder nicht.«

»Jetzt steht es da«, sagte Manfred.
»Was heißt das – jetzt?«
»Es wurde heute Nacht in die Luft gesprengt und am Morgen wieder aufgebaut.«
Schlaff sanken meine Arme nieder. Manfred entwand sich mir unter hässlichen Flüchen und eilte in den klaren Morgen hinaus, um die noch nicht infor-
mierten Nachbarn über die Katastrophe zu informieren.
(c) Kishon

___________________
Kommunismus mordet.
Ich bin bereit, über die Existenz von Einhörnern zu diskutieren. Aber dann verlange ich außergewöhnlich stichhaltige Beweise.

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.547

29.09.2015 22:01
#2 RE: Kishon: Aus absolut sicherer Quelle Antworten



Und aus irgendeinem Grund, sag' ich mal jetzt so, quasi, kommt mir dabei jene Episode aus Wolfgang Hildesheimers "Tynset" (1965) in den Sinn, in der sich der namenlose Erzähler in seiner so zeit- wie konturenlosen, nachgerade Beckett'schen Nacht an diesen abgründigen Schabernack erinnert:

Zitat von Tynset
Eines Nachts stieß ich im Telefonbuch auf den Bewohner eines mir schräg gegenüberliegenden hauses. Ich kannte ihn nicht. Ich glaube, er hieß Huncke oder so ähnlich. Ich rief ihn an, es war schon spät in der Nacht. Ich sah hinter einem Fenster im zweiten Stock Licht aufleuchten, und sofort meldete er sich. Er wollte mir zunächst seinen Namen nicht sagen. ... Ich sagte: "Sie sind es also, Herr Huncke," und er sagte nun, in einem Ton, als sei er plötzlich seiner Identität nicht mehr ganz so sicher: "Ja - warum?" ... Ich sagte: "Herr Huncke, hören Sie mir jetzt bitte gut zu: es ist alles entdeckt. Alles, verstehen Sie? Ich möchte Ihnen daher raten: Fliehen Sie, solange Ihnen noch Zeit bleibt!" Er hängte ab, ich hängte ab, und sofort leuchtete drüben ein zweites Fenster auf, dann ein weiteres und noch eines, das Haus wurde hell wie ein Opernhaus zur Zeit der Pause, und kaum eine halbe Stunde nach dem Gespräch fuhr ein Taxi vor, das Opfer meines Anrufs trat aus dem Haus, zwei Koffer am Arm, bestieg das Taxi und fuhr davon. Ob Herr Huncke eine Frau hinterließ, weiß ich nicht, jedenfalls nahm er sie nicht mit, und weder sie noch ein anderer löschte das Licht in Haus. Die ganze Nacht blieb es erleuchtet, und die nächste auch.
...
Ich habe dieses Spiel dann noch einige Male wiederholt. Nur in einem einzigen dieser unüberblickbaren Fälle war ich mir des Erfolgs gewiß: ich fand im Telefonbuch einen Mann, der Gottfried Malkusch hieß, er war Druckereibesitzer. Ich rief ihn an. Das Telefon wurde sofort abgehoben, und der Angerufene gab mir sofort seinen Namen an. Offenstichtlich hatte er, trotz der vorgerückten Stunde, auf einen Anruf gewartet. Ich sagte, diemsla atemlos und flüsternd und ohne Umschweife: "Herr Malkusch, es ist alles entdeckt." nach einer Sekunde sagte er heiser: "Nein." - "Ja," sagte ich, "alles, leider." - "Also doch!" - "Alles," wiederholte ich, diesmal mehr wie ein beteiligter und damit betroffener Mitwisser als wie ein Warner. - "Und jetzt?" fragte er. - "Malkusch," flüsterte ich freundlich, denn nun tat er mir beinah ein wenig leid, "Malkusch, fliehen Sie, bevor es zu spät ist!" - Wieder eine Pause der Ratlosigkeit, dann: "Habe ich Zeit, ein paar Sachen einzupacken?" - "Ich fürchte nicht," flüsterte ich, denn plötzlich tat er mir nicht mehr leid, "nein, Malkusch, ich würde es an Ihrer Stelle nicht tun. - Und dann sagte er: "Danke, Obwasser", - ja, "Obwasser" nannte er mich und hängte ab, und ich bin beinah gewiß, daß er nichts eingepackt hat. (Zit. n.d. Erstausgabe, Suhrkamp 1965, S. 33-35)



"Tynset" ist ja eine völlig schwebende, im Irrealis des Halbschlafs zwischen Überwachheit und Betäubung oszillierende Kette von Anläufen zu Geschichten, zu Gedankenausfügen, die aber sämtlich ins Leere laufen. Ein Nachtbuch, das eben den hypnagogischen Übergang von einem geistigen Aggregatzustand in dessen Absenz zum Thema hat, vom Einstieg an:

Zitat
"Da liege ich, liege immer tiefer, immer ein wenig tiefer, rücklings angesogen vom Mittelpunkt der Erde. Versinken – durch alle Schichten hindurch, durch Bett und Boden und Erde, Granit und Gneis und Malm und Dogger, hindurch, hinab, rücklings, sanft – sanft, immer tiefer, und über mir schlägt alles wieder zusammen, als sei ich nie gewesen..."



Genau diesen assoziativen Einstieg hat Brigitte Kronauer im Auftakt ihres Romans "Die Frau in den Kissen" (1990), auch eine große Eloge des Schlafs (& der Döspaddeligkeit, wenn eine kurze Wachepisode zwischengeblendet wird: das scheint konstitutiv für solche, mhm, "Treibguttexte" zu sein), aufgenommen & ins Aufsteigende statt Versinkende gekehrt:

Zitat
Hier höre ich nichts als leises Fressen, ein gemütliches Flüstern. Im Elefantenhaus, wo man auch am hellen Vormittag nur döst und dämmert, fallen mir wieder die fünf Zeilen von gestern abend ein und nicht nur die. Fünf Zeilen vor dem Einschlafen, die man spielend lernen kann:
Troposphäre
Stratosphäre
Ionosphäre
Exopshäre
Interplanetares Medium
Ein gnädig kurzer Rosenkranz, um das Gemüt in Form zu bringen, in Bettkastenformat. Das kam einer unmenschlichen Schwere am Anfang entgegen, einer Gedunsenheit am letzten Abend, einer laufenden Gewichtszunahme durch Anschwellen: Troposphäre, Stratosphäre, Ionosphäre, Exosphäre, Interstellarer Raum.
Man schließt die Augen und schaft die Welt hinter eine schwach lichtdurchlässige Mauer, schafft sie ab. Ein Trost am Tage, ein größerer Trost allerdings in der Waagerechten, die Lider so leicht auf dem müden Augäpfeln wie die Decke über dem Körper, das Dach über dem Kopf, die Nacht über der Erdhälfte, der Weltraum um den Planeten herum, ein gütiges System von Umschließungen nach der Erschöpfung.



Und keiner hats gemerkt.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.547

29.09.2015 23:04
#3 RE: Kishon: Aus absolut sicherer Quelle Antworten

Solche "Schlafodysseen" gibt es ja einige, & wenn man ein wenig das Nachtbewußtsein in der Rumpelkammer abgehangener Erinnerungen googeln läßt (Dr. Sigmunds "UBW"), tauchen da eine überraschende Anzahl auf. "Finnegans Wake" natürlich - aber der zählt nicht, weil der Text zu kryptisch verknäult, zu sehr in sinnlose Kalauer zerfetzt ist: die Sprache hechelt Scat mit 150 bpm. Le Clézios "Le chercheur d'or" wird vom Wegdämmern im Schlagen der Meeresbrandung eingerahmt; Gontscharows "Oblomow"; der Mittelteil von Virginia Woolfs "To the Lighthouse", der vom Einschlafen in der Ferienpension über den ganzen Ersten Weltkrieg blendet; der Auftakt der Proust'schen Recherche ("je ne comprends pas l'interet qu'il peut avoir ä lire trente pages sur la facon dont un Monsieur se retourne dans son lit avant de s'endormir," meinte einer der angeschriebenen Verleger), Djuna Barnes' "Nightwood" (von dem Hildesheimer mgw. den Anstoß bekam, weil er das kurz zuvor übersetzt hat). Im Deutschen Martin Mosebachs "Das Bett". Und Robert Irwins "Arabian Nightmare", der über Träume in Träumen immer tiefer steigt & von dem weder der Erzähler-selbst noch der Leser weiß, ob er am Ende wieder auf der obersten Spielebene auftaucht: ein Verfahren, das Irwin aus 1001 Nacht aus der Geschichte der Schlangenkönigin übernommen hat & das es dann ziemlich formvollendet bis in Christopher Nolans "Inception" geschafft hat. (Wenn man beim letzten Beispiel wirklich einen ontologischen gordischen Knoten schürzen will, muss man sich nur die Frage stellen: wer sagt uns, dass die Ebene, von der Cobb/Di Caprio & Co. aus ihren Coup planen, irgendetwas mit der Realität zu tun hat?)



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.547

29.09.2015 23:38
#4 RE: Kishon: Aus absolut sicherer Quelle Antworten

Ein anderes tertium comparationis zwischen Hildesheimer & Kishon ist der "Anruf in der Nacht" (beim erstern wörtlich): die zur dunkelsten Stunde hereinbrechende Botschaft, ohne Vorwarnung & von womöglich katastrophalem Ausmaß - & die man weitertragen muss. Da kommt einem noch Steven Millhausers Erzählung "A Voice in the Night" in den Sinn, zuerst im New Yorker vom 10. Dezember 2012 - wo sich der alte Schriftsteller im schlaflosen Dunkel an sein 7-jähriges Selbst erinnert, dem in der Vorphase seiner Bar Mitzvah die Jugendepisode des Propheten Samuel vor Augen steht (im 1. Buch Sam. 3,8-9): der sich dreimal in der Nacht vom Hohepriester Eli aus dem Schlaf gerufen fühlt; ihn nur schlafend vorfindet & beim dritten Mal weiß, wer ihn beim Namen gerufen hat - & der nun in das nächtliche Dunkel über New Jersey horcht: ich glaube ja nicht an diese schlichten Legenden, mein Vater lacht über all diesen Kinderkram, aber was ist, was ist, wenn es mich nun doch ruft? (Schlecht ist's, & Samuel, dessen Perspektive die 3. Erzählebene bildet, wehrt sich mit jeder Faser gegen die Zumutung, die er nicht abweisen kann.) Zeigt sich da vielleicht eine spezifisch jüdische Perpektive, die die drei Versionen, bei aller Differenz, verbindet?



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Meister Petz Offline




Beiträge: 3.923

30.09.2015 11:00
#5 RE: Kishon: Aus absolut sicherer Quelle Antworten

Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #2
Wolfgang Hildesheimer

Sehr schön, ein ohnehin zu Unrecht kaum gelesener Autor. Noch schlimmer: ein zu Unrecht kaum gespielter Dramatiker. Allein seine Turandot-Persiflage (Der Drachenthron) ist sowas von witzig, dass es wiederum nicht verwundert, dass der Mann im doitschen Födong nix gilt.

Gruß Petz

Free speech is so last century. (Brendan O'Neill)

Ulrich Elkmann Offline




Beiträge: 14.547

30.09.2015 23:39
#6 RE: Kishon: Aus absolut sicherer Quelle Antworten

Zitat von Meister Petz im Beitrag #5
seine Turandot-Persiflage (Der Drachenthron)


Der Turandot-Stoff hat Hildesheimer fast 10 Jahre lang beim Wickel gehabt. So recht wird nicht klar, ob es ihn gereizt da, da Variationen auszuprobieren, oder ob er nie mit den bisherigen Versionen zufrieden war. (Das zumindest auch. In der Dankrede für den Hörspielpreis der Kriegsblinden meint er: "dennoch hatte ich das Gefühl - und habe es noch heute - da´es noch besser, da´die Ausdruckskaala noch noch reicher hätte sein sollen; daß, wenn ich noch kritischer mitmir selbst gewesen, das Werk vielleicht makellos geworden...")

Da gibts zwei Bühnenfassungen - "Der Drachenthron", von 1955 (3 Akte) & "Die Eroberung der Prinzessin Turandot" von 1960 (2 Akte), und zwei Hörspielfassungen, mit unterschiedlichen Schlüssen (gesendet am 29.1. und 10.10.54; aber erst nach der ersten Theaterversion geschrieben), und zum Schluss noch eine Fernsehfassung von 1963 (mit 3. Schlussvariante), zu der er aber nicht mehr das Drehbuch geschrieben hat. Bei der Uraufführung von "Drachenthron" am 23.4.55 im Schauspielhaus Düsseldorf hat übrigens Gustaf Gründgens Regie geführt. In jeder Fassung hat er die Turandot ein paar Jahr älter gemacht (sie startet mit 30) .

Als Essayist oder Analytiker ist Hildesheimer weniger in Erinnerung geblieben; das sind durchweg Neben- & Brotarbeiten - und dann die Mozart-Biographie, mit der er allerdings die "Wolf Gang" (wie Anthony Burgess die genannt hat) verschnupft hat, weil da jede Menge detaillierte Partituranalysen drinstecken & sich das eben nicht auf die Schiene "der Wolferl & das Nannerl" beschränkt (das kommt fast gar nicht vor), wo die Födong-Nasen Auslauf haben dürfen. Es gibt allerdings, große Ausnahme, eine hübsche Gedichtinterpretation à la "Frankfurter Anthologie" von ihm. Da hat er sich das wohl bekannteste deutschsprachige Weihnachtsgedicht des 20. Jhdt.s vorgenommen, "Advent", von einem gewissen Herr von Bülow.

Zitat von Gedanken zu einem Gedicht von Loriot
Im Jahr 1799 schreibt Caroline Schlegel an ihre Tochter: "Schillers Musenkalender ist auch da. Beim 'Lied von der Glocke' sind wir gestern fast von den Stühlen gefallen vor Lachen." ... Bei wiederholter Lektüre des wunderbaren Gedichtes 'Advent' von Loriot, das wohl der Periode seiner mittleren Reifezeit zuzurechnen ist, habe ich mich hin und wieder gefragt, was wohl die beiden Damen von der Heldin dieses Gedichtes gehalten hätten, die, ohne jegliche Hilfe von außen, mutig und gefaßt, ihren eigenen Weg einschlägt. ...

Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob die beiden Damen Schlegel nicht vielleicht doch ein leises Lächeln hätten unterdrücken müssen angesichts dieser beiden Zeilen (bei denen Hugo Wolf, hätte er diese Strophen vertont, von d-Moll nach C-Dur übergegangen wäre):
Er war ihr bei des Heimes Pflege
seit langer Zeit schon sehr im Wege
und wir selbst mögen uns ebenfalls fragen, ob hier nicht doch ein allzu nürgerlich-prosaisches Element ankling, ähnlich dem Lied von der Glocke. Dazu kommt ein thematischer Einwand: es erscheint dem Leser offensichtlich, daß die Heldin dieses Heim nicht mehr lange pflegen wird, denn gewiß handelt es sich um eine Dienstwohnung, von der sie sich nunmehr wohl trennen muß, um fortan in der Stadt von der mageren Hinterbliebenrente des Ministeriums für Landwirtschaft und Forsten zu leben, es sei denn, daß sie, resolut wie sie ist, sich auf andere Weise zu helfen weiß, oder daß sie, wie schon gesagt, ihr Dasein fürderhin im Zuchthaus fristet.

Da wir nun schon bei den - wahrhaft geringen - Schwächen des Werke sind: Der Gedanke:
Voll Sorgfalt legt sie Glied auf Glied,
(was der Gemahl bisher vermied),
an sich ein schöner Gedanke, befriedigt dennoch nicht vollends. Hier wäre das Perfekt am Platz gewesen, denn dieses so subtil angedeutete Verhalten liegt nunmehr in einr abgeschloseenen Vergangenheit, daher auch das Wort "bisher" etwa Irreführendes hat. Denn es hätte ja zu bedeuten, daß der Zustand, auf den es sich bezieht, sich in Zukunft ändern mag, wovon kaum die Rede sein kann.

Sonst aber erscheint mir dieses Gedicht vollkommen. Hier ist behutsam ins Dichterische abgewandelter Realismus, dem sich alsbald das Märchenelement zugesellt. Mit Silberschellen kündet sich himmlisches Geschehen an, begleitet von dem irdischen Geräusch des Hundebellens, und schwebt, als betörender Adventszauber in Form des Hirsch-reitenden Knecht Ruprecht, näher. Der goldene Schlitten ist, so denke ich, für die milden Gaben, die hier um sechs Köstlichkeiten bereichert werden. Der munter-derben Frage Knecht Ruprechts: "He, gute Frau..." antwortet die frau in schöner Bescheidung: "'s ist alles, was ich geben kann." Aus diesen Worten spricht edle Gengsamkeit. Die Försterin nimmt ihr Schickal auf sich und gibt sich über ihre Witwenrente keinen Illusionen hin.

Loriot hat den Mut zur Schlichtheit. Er wird niemals hermetisch, aber auch, trotz der lapidaren Wucht der Mitteilung, niemals grob realitätsbezoge; immer hebt das vorherrschende Erhabene die nüchterne Mitteilung in seinen Bereich. Der Dichter bliebt stets in souveränem Bewußtsein der Zusammenwirkung allen Bestehenden.
In dieser wunderschönen Nacht
hat sie den Förster umgebracht,
In der großartigen Selbstverständlichkeit dieser Reihung mitunter starker Kontraste liegt die Stärke Loriots. Denn obwohl sie den Charakter einer Sendung niemals völlig verleugnet, enthält sie kein Pathos wie das Werk Stefan Georges und auch kein Selbstmitleid wie das Rilkes. So gehört denn auch dieses Gedicht in jedes deutsche Haus, es wird nicht altern, sondern in seinem stillen Glanz, seiner verhaltenen Gemütstiefe, ewig frisch blieben.

(Zuerst im 9. Raben, bei Haffmanns, 1985)



Ach was.



Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande. - Voltaire

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