Ein interessanter Text, der in der Tat meine Aufmerksamkeit erregte. Der Sinologe scheint weniger Vorbehalte gegen die ihn aufnehmende Kultur zu haben als "der Taipan".
Die Schilderung des Sinologen entspricht hier ganz den Klischee des Stubengelehrten, wie man ihn wohl auch über einen anderen westlichen Gelehrten schreiben könnte. Nur mit dem Unterschied, dass hier der Intellektualismus besonders krass zu tage tritt. Statt das Land, in dem er nun auf eigenen Entschluss lebt, wirklich zu erleben, erforscht er es nur durch die "kulturelle Reproduktion" ("Die Pracht von Lotusblüten bewegt ihn nur, wenn ihre Schönheit in den Versen Li Bais aufbewahrt ist und das Lachen der züchtigen chinesischen Mädchen berührt sein Herz nur in der Vollkommenheit eines kunstvoll gedichteten Vierzeilers"). Dem Leser soll wohl der Gedanke suggeriert werden, dass der Sinologe seine Studien im Grunde auch in einer Bibliothek irgendwo auf der Welt durchführen könnte. Räumliche Nähe ist im Grunde schon irrelevant, solange man die "fremdartigen Zeichen" auch drucken kann. "Logisch gesehen" überraschend, aber irgendwie stimmig ist auch der Verdacht des Erzählers, dass der Sinologe im Grunde kein Ästhet ist ("Aber es ist ein eingeschränktes Leben. Kunst und Schönheit scheinen ihm nichts zu bedeuten[...]"). Es ist irgendwie seltsam, dass jemand, der den ganzen Tag Gedichte studiert, eigentlich für Schönheit nichts übrig haben soll. Da wäre eine Spezialisierung auf chinesische Philosophie irgendwie glaubwürdiger und doch wirkt es merkwürdig stimmig.
Der ausländische Sinologie, der die chinesische Kultur intensiver erforscht als die meisten Einheimischen, falls er denn jemals real war, gehört wohl schon lange der Vergangenheit an und man müsste schon gewisse andere Kulturkreise betrachten, um heute einen ähnlichen Zustand zu finden. Vielleicht ist das aber von vornherein nur westlicher Dünkel. Nun ist es aber auch Fakt, dass mancher Germanist aus dem Ausland wohl mehr über deutsche Literatur und Philosophie weiß als der durchschnittliche Gymnasiast. Es ist natürlich auch selbst Teil der Kultur, wie man mit den "kulturellen Erbe" umgeht. Vielleicht war es für die Chinesen dieser Epoche eher eine Schrullenhaftigkeit, wenn sich jemand auf antike Literatur oder Philosophie spezialisiert. Genauso wie für uns Westler heute ein Altphilologe oder Experte für klassische Musik. Während ich das schreibe kommt mir in den Sinn, dass einige Asiaten in Bezug auf die klassische Musik wohl der Situation des Sinologen sehr nahe kommen dürften...
Jetzt habe ich schon mehr zu diesen sehr kurzen Prosastück geschrieben als Herr Elkmann selbst.
Zitat von Johanes im Beitrag #2Der ausländische Sinologie, der die chinesische Kultur intensiver erforscht als die meisten Einheimischen, falls er denn jemals real war
Also meine chinesischen Freunde wundern sich mitunter schon, was ich aus irgendwelchen verstaubten Ecken zutage fördere...
Scherz beiseite: EINEN solchen Gelehrten hat es zumindest gegeben, nämlich Joseph Needham (1900-1995), den Verfasser der zahllosen Bände von "Science and Civilization in China", mit bis heute 27 Bänden nicht unter 700-800 Seiten in 7 Abteilungen. (Die Arbeit ist nach seinem Tod fortgesetzt worden, und er hat für die späten Bände Mitautoren gehabt. Needham war von Haus aus Chemiker in Cambridge, ist dann aber über eine chinesische Doktorandin, mit der er ein Verhältnis anfing und die dann bis zu ihrem Tod seine Lebenspartnerin wurde, mit einer Faszination für die chinesische Kultur angesteckt worden. Needham hat dann ab 1940 sieen Jahre in China selbst verbracht, da, wo die Guomindang es möglich machte, die Bibliotheken und Archive zu studieren. Es stellte sich dann schnell heraus, daß die Bibliothekare und auch die meisten Fachgelehrten kaum Ahnung von dem hatten, was dort alles auszugraben war: der größte Teil des Korpus war nie nachgedruckt worden, und im Zuge der Öffnung zum Westen und der Fokussierung auf die Erkenntnisse der westlichen Wissenschaft war das meiste, das verfügbar war, ad acta gelegt worden. Man darf auch nicht vergessen, daß während der meisten Zeit der chinesischen Geschichte die meisten Chinesen weder lesen noch schreiben konnten; die ersten großen Literarisierungskampagnen hat es erst nach Gründung der Republik 1911 gegeben (das ging dann auch gleich ab 1913 mit akademischen Vorstößen zu einer radikalen Schriftreform und der Entscheidung für eine verbindliche Nationalsprache einher; die verbindliche Festlegung auf das Mandarin, mit Pekinger Aussprache, als Putonghua, als Volkssprache, kam dann erst nach dem Sieg der Kommunisten; von denen ja auch 1955 die Umstellung auf Kurzzeichen ausging). Für etwa ein Drittel der Stadtbevölkerungen galt, daß sie lesen konnten; und für die Beamtenprüfungen mußte man die Vier Klassiker auswendig kennen und auslegen können; aber der größte Teil der Bwervölkerung waren ärmste Bauern; Frauen, wenn sie nicht eben in die gehobenen Stäände verheiratet werden sollten, sollten am besten gar nicht lesen können. Lu Xuns Mutter etwa hat diese Kunst nur erlernt, weil ihre Brüder privaten Unterricht erhielten und sie Mäuschen spielte und anschließend mit ihrem Bruder geübt hat.
Zitat von Johanes im Beitrag #2Dem Leser soll wohl der Gedanke suggeriert werden, dass der Sinologe seine Studien im Grunde auch in einer Bibliothek irgendwo auf der Welt durchführen könnte. Räumliche Nähe ist im Grunde schon irrelevant, solange man die "fremdartigen Zeichen" auch drucken kann.
Da darf man sich durchs Computerzeitalter nicht täuschen lassen. Für die Sinologie war das eine Weltrevolution, als Ende der achtziger Jahre die ersten Programme entwickelt wurden, mit denen sich Hanzi darstellen ließen. Vorher war das, von einigen spezialisierten Verlagen abgesehen, die eben die riesigen Letternvorräte parat hatten, zumeist ein Ding der Unmöglichkeit, das zu reproduzieren. Ich habe zahllose Studien und Beiträge in Fachzeitschriften gelesen, bei denen die Schriftzeichen händisch in den maschinengesetzten Text eingefügt worden sind. Zum Teil galt das sogar für die Wörterbücher.
Zitat von Johanes im Beitrag #2Vielleicht war es für die Chinesen dieser Epoche eher eine Schrullenhaftigkeit, wenn sich jemand auf antike Literatur oder Philosophie spezialisiert.
Die Gelehrten und Intellektuellen kannten sich natürlich aus. In den Texten von Zhuo Zuoren, die ich hier übersetzt habe, finden sich ja Beispiele davon. Aber als Schulkanon war das auf ein geringes Pensum beschränkt: die vier Bücher und fünf Klassiker, die vier klassischen Romane, wobei das 紅樓夢, der "Traum der roten Kammer," wenn er denn gelesen wurde, in zensierter und gekürzter Form gelesen wurde (weil manches darin, auf gut Hamburgisch gesagt, doch aaaarch an-ssstößich ist; ganz zu schweigen vom 儒林外史, den "Notizen aus dem Gelehrtenwald," der zwar viel gelesen wurde, aber eben nicht zu diesem Fundus zählte. Aber schon die vielen Kommentare zu dem drei Rechtsschulen - konfuzianistisch, daoistisch, legalistisch - blieben da außen vor. Wahrscheinlich dürften die feinen Unterschiede zwischen dem Fichteschen Idealismus und dem Schellings hier auch nicht unbedingt der große Bringer beim Small Talk darstellen.
"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #3ab 1913 mit akademischen Vorstößen zu einer radikalen Schriftreform
Lu Xun selbst hat etwa für die komplette Abschaffung der Schriftzeichen plädiert und einer Lateinverschriftlichung. (Eins der Ergebnisse dieses Vorschlags, den er ja nicht allein vertrat, war das Gwoyeu Romatzyh, das so häßlich ist, wie es heißt. In dem Zusammenhang - also ob es überhaupt sinnvoll ist, für das Chinesische - in welcher Variante auch immer - eine Buchstabenverschriftlichung zu verwenden (definitiv NEIN: ein Text in Hanzi ist problemlos lesbar, so man denn die Zeichen beherrscht, ein Text in Giles-Wade- oder Pinyin-Transliterierung ist nur bruchstückhaft verstehbar) verdankt sich ein kleiner Text, der zum Klassiker geworden ist, den der Sprachwissenschaftler Chao Yuen Ren, 赵元任 (1892-1982) in den frühen dreißiger Jahren als Illustration dafür geschrieben hat. Der Text mit seinen 92 Zeichen/Wörtern ist Surrealismus, Nonsensedichtung; er dient zur Klarstellung der Homophonie im Mandarin: 《施氏食獅史》, "Die Geschichte von Shi, der sich von Löwen ernährt"
Zitat Shíshì shīshì Shī Shì, shì shī, shì shí shí shī. Shì shíshí shì shì shì shī. Shí shí, shì shí shī shì shì. Shì shí, shì Shī Shì shì shì. Shì shì shì shí shī, shì shǐ shì, shǐ shì shí shī shìshì. Shì shí shì shí shī shī, shì shíshì. Shíshì shī, Shì shǐ shì shì shíshì. Shíshì shì, Shì shǐ shì shí shì shí shī. Shí shí, shǐ shí shì shí shī, shí shí shí shī shī.
Shì shì shì shì.
BEDEUTEN tut es folgendes:
Zitat Steinhöhlendichter Shi, süchtig nach Löwen, schwört, zehn Löwen zu essen. Oft geht er auf den Markt, um Löwen zu sichten. Um zehn Uhr passieren gerade zehn Löwen den Markt. Zu dieser Zeit passiert auch Shi gerade den Markt. Er sieht die zehn Löwen, kraft seiner Pfeile schickt er die zehn Löwen in den Tod. Er bringt die zehn Löwenleichen zur Steinhöhle. Die Steinhöhle ist feucht. Er befiehlt seinem Diener, diese abzutrocknen. Nachdem die Steinhöhle abgetrocknet worden ist, versucht er, die zehn Löwen zu essen. Beim Essen merkt er, dass diese zehn Löwen eigentlich zehn Steinlöwenleichen sind.
Versuche dies zu erklären.
Der ganze höhere Blödsinn ist einfach zu lesen; beim lauten Vortrag, wo natürlich Sätze nach dem Muster "wenn Griechen hinter griechen griechen, griechen Griechen hinter Griechen her" (man muß siich das säggssch ausgesprochen vorstellen) eher nicht vorkommen - oder eben bei einer Buchstabenschrift - ist der Rezipient hoffnungslos verloren.
"Les hommes seront toujours fous; et ceux qui croient les guérir sont les plus fous de la bande." - Voltaire
Zitat von Ulrich Elkmann im Beitrag #3Also meine chinesischen Freunde wundern sich mitunter schon, was ich aus irgendwelchen verstaubten Ecken zutage fördere...
Das kenne selbst ich auch bei Deutschen.
Zitat Für die Sinologie war das eine Weltrevolution, als Ende der achtziger Jahre die ersten Programme entwickelt wurden, mit denen sich Hanzi darstellen ließen.
Ich habe erst "Hanzu" gelesen und war etwas verwirrt.
Ich sprach ja auch davon, was der Autor uns nahelegt. Allerdings zweifle ich nicht, dass Fachbibiliotheken auch im Westen den Bedarf der Sinologen befrieden konnten. Zumindest solange er oberflächlich blieb.
Wissenschaftliche Bücher kosten auch heute gut und gerne mal 100 Euro, das Abo von entsprechenden Fachzeitschriften ebenfalls. Der Grund ist einfach, weil die Verlage von vornherein wissen, dass sie nicht auf den Massenmarkt des Allgemeinpublikums schielen, sondern Experten an Instituten adressieren. Da kann der Druck sicherlich auch mal mehr kosten, weil man die Preise für das Setzen von Schriftzeichen einpreisen muss.
Es gab und gibt ja auch außerhalb der chinesischen Schriftzeichen einen Bedarf an der Darstellung von "Nicht-Standardalphabeten". Beispielsweise bei Ägyptologen, Musikern oder Chemikern mit ihren Strukturformeln. Meines Wissens wurde die Not der Musiker da etwas erleichtert durch die Erfindung des Steindruckverfahrens (Lithographie). Passenderweise erfunden durch einen Komponisten im deutschsprachigen Raum. Wäre das nicht auch ein guter Ausweg für die Sinologen gewesen? Zumindest bis zur Entwicklung des Fotokopierers?
Was war mit Japan. Die Kanji (Japan hat ja bekanntermaßen mindestens drei Alphabete) müssen ja auch irgendwie gedruckt werden und im Wesentlichen sind das chinesische Schriftzeichen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sich da eine Druckerei nicht ein Zubrot verdient, indem es auch einen westlichen Markt bedient, zudem die Japaner sich traditionell mit den chinesischen Klassern auseinandersetzen. Sieht man ja an den Epochennamen, beispielsweise.
Zitat Wahrscheinlich dürften die feinen Unterschiede zwischen dem Fichteschen Idealismus und dem Schellings hier auch nicht unbedingt der große Bringer beim Small Talk darstellen.
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