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Das Forum zu "Zettels Raum"



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Dieses Thema hat 12 Antworten
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 Kommentare/Diskussionen zu "Zettels Raum"
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

24.03.2008 04:32
Zettels OsterfragerEi (3): Erinnerungen an 1968 Antworten

Viele, die hier lesen und schreiben, werden keine eigene, autobiographische Erinnerung an 1968 haben; aber Erinnerungen in einem anderen - "semantischen" - Sinn doch. Auch wir, die wir diese Zeit erlebt haben, vermischen das Erlebte mit dem, was wir später dazu erfahren haben.

Wie war das damals? Wie stellen es sich diejenigen vor, die es nicht bewußt erlebt haben? Darum soll es in dieser dritten und letzten OsterfragerEi gehen.

Friedel B. Offline




Beiträge: 49

24.03.2008 09:53
#2 RE: Zettels OsterfragerEi (3): Erinnerungen an 1968 Antworten

Im Jahre 1968 war ich Student im 5. / 6. Semester an der Universität Marburg, einer der damaligen Hochburgen der "Studentenbewegung". Meine Erinnerungen an diese Zeit sind daher so vielfältig, dass ich sie hier natürlich auch nicht ansatzweise referieren kann. Nur ein winziges Schlaglicht: Ich bin zwei Mal zum Fachschaftssprecher der Studenten meiner Fachrichtung (Psychologie; in Marburg damals in der Naturwissenschaftlichen Fakultät - einmalig in Deutschland!) gewählt worden, nämlich im 3. und im 6. Semester. In meiner ersten "Amtszeit" hatte ich unter anderem über die Ostertage eine Zeltfreizeit am Edersee zu organisieren, aber auch Podiumsdiskussionen zwischen profilierten Repräsentanten der Psychologie zu veranstalten, die unterschiedliche Positionen vertraten (bei einer solchen Gelegenheit hatte ich das Glück, Hans-Jürgen Eysenck persönlich kennenzulernen). In meiner zweiten Amtsperiode ging es demgegenüber nur noch darum, "hochschulpolitische Aktionstage" vorzubereiten und bei endlosen Debatten Teil der Diskussionsleitung zu sein. Ich habe dann bald das Handtuch geworfen, da ich mich mit einem solchen Ansinnen völlig überfordert sah. Mein Interesse galt nämlich damals (wie auch heute noch) in erster Linie den Menschen als Individuen; ich habe daher bis auf den heutigen Tag große Schwierigkeiten damit, in politischen Kategorien zu denken. Begriffe wie "Arbeiterschaft", "Establishment" und "Klassengesellschaft" oder gar "soziale Gerechtigkeit" sagen mir gar nichts; sie sind für mich tatsächlich nichts als ein "stimmlicher Hauch" (flatus vocis), wie die Nominalisten derartige Abstrakta nach meiner Ansicht überaus treffend bezeichnet haben. Ich hatte daher damals einen schweren Stand; ich weiß noch genau, wie fassungslos ich reagiert habe, als eine (in meiner Erinnerung sehr schöne) Kommilitonin einen meiner damaligen und heutigen Lieblingsautoren, nämlich Stefan Zweig, mit dem Verdikt abtat, seine Novellen besäßen keine gesellschaftspolitische Relevanz und seien damit belanglos. Neben dem Interesse an meinem konkreten Gegenüber war allerdings auch die Tatsache, dass ich bei Studienbeginn bereits Leutnant der Reserve war, eine Ursache dafür, dass ich nie so recht zu den "68ern" gehörte und zumindest ein wenig gegenüber der Versuchung durch Utopien gefeit war.

P.S. Erwähnenswert erscheit mir noch die Tatsache, dass die Beteiligung an den Wahlen zu den Studentenparlamenten trotz des überbordenden politischen Aktuvismus' in meiner Erinnerung damals so um die zwölf Prozent lag, also vermutlich ebenso gering war, wie sie es heute ist.

Chripa Offline



Beiträge: 132

24.03.2008 11:18
#3 RE: Zettels OsterfragerEi (3): Erinnerungen an 1968 Antworten

Lieber Zettel,
auch von mir noch einmal Frohe Ostern!
Diese Seite macht mir viel Freude,
dass ich nicht noch öfter kommentiere,
liegt daran, dass ich meist nicht so viel
Zeit habe und dass ich Ihren Ausführungen
meist eh nichts Sinnvolles mehr hinzufügen kann
Ich bin erst 1982 geboren. Woran ich mich aber nur zu
gut erinnern kann sind 68er, die für sich in Anspruch
nehmen, "Deutschland erst richtig demokratisiert" zu haben usw.
Das stimmt nicht, zwar haben sie ein geistiges Klima geschaffen,
in dem man problemlos "USA-SA-SS" uä gröhlen konnte. Bei den
wirklich wichtigen Fragen der Zeit wurde aber keine Abweichung
geduldet. Was mich in diesem Zusammenhang interessieren würde:
Sie haben in einem früheren Beitrag zu diesem Thema schon einmal
diese Ambivalenz herausgearbeitet, die darin bestand, dass sehr
viele 68er zunächst ultra-liberal waren, dann aber mehr oder weniger
ansatzlos extrem autoritären Vorstellungen anhingen.
Diesen Artikel meine ich:
http://zettelsraum.blogspot.com/2007/06/...e-zeit-der.html
Ich verstehe nicht, wie es dazu kommen konnte. Meinen Sie, es war so,
dass diese Leute auf einmal eine Art Leere in sich gespürt haben
und merkten, dass sie eigentlich doch jemand brauchen, der sagt,
wo es langgeht? Wieso diese Überreaktion? Oder war es doch mehr der
Hass auf die Eltern, die ihnen permanent ihre Diszipliniertheit und
große Aufbauleistung nach dem Krieg vorhielt?
Herzlich,
Chripa

R.A. Offline



Beiträge: 8.171

25.03.2008 12:20
#4 RE: Zettels OsterfragerEi (3): Erinnerungen an 1968 Antworten

1968 war ich erst acht Jahre und da ist natürlich nicht viel hängen geblieben.
Alles was man heute innenpolitisch mit 1968 assoziiert, ist an mir und meinen Freunden völlig vorbei gegangen, das hat in Schule oder Elternhäusern keinen interessiert.

Meine einzige politische Erinnerung an diese Zeit betrifft den sowjetischen Einmarsch in die CSSR. Das war genau während unseres Urlaubs, und meine Eltern haben mit den österreichischen Gastgebern ausführlich darüber diskutiert - da habe ich aufgepaßt wie selten.

Die nächsten konkreten Erinnerungen kommen dann 1972 mit dem Olympia-Attentat und den nachfolgenden Kampf gegen den Terrorismus, das hat uns recht nachhaltig geprägt.

Ungelt ( gelöscht )
Beiträge:

25.03.2008 23:31
#5 RE: Zettels OsterfragerEi (3): Erinnerungen an 1968 Antworten

Ein für mich unendliches Thema, damit könnte ich ein Buch füllen, wenn ich schreiben könnte. Mein Leben wurde in diesem Jahr mehrfach umgekrempelt und am Ende wußte ich nicht, wer ich bin.

Anfang des Jahres war ich in Prag, mein Fachabitur stand bevor, meine Eltern waren seit einigen Monaten in Deutschland (Familienzusammenführung, nannte sich das), mein Auswanderungspass lag bei einem Reisebüro abholbereit, ich hatte aber meine erste große Liebe gefunden, und nach Prag kam etwas, was sich Freiheit nannte. Eine absolut einmalige Zeit. Aber schon am Jahresende klar, daß das alles nie wieder kommen kann, und daß ich daran noch lange werde "knabbern" müssen. Da wohnte ich schon in einem bayrischen Städtchen bei meinen Eltern und war noch wild entschlossen, nach zwei Jahren wieder zurückzukehren.

Aber zu 68, wie es in Westeuropa erlebt wurde: Ich habe nur gestaunt, was da ablief. Ich glaube, wenn Ausserirdische geladet wären, hätte ich nicht mehr staunen können. Totaler Irrsinn, nichts begriffen. Nur, daß es etwas verdammt tief sitzendes in der Seele der Menschen sein muß, war irgendwie deutlich. Unbekannt, bedrohlich, kompliziert. Die Situation in Prag war so fabelhaft eindeutig, es gab das eindeutig "Böse", und der Rest war (noch) ein riesiger glücklicher "Freundeskreis".

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

26.03.2008 07:12
#6 Und wie sehen das diejenigen, die es nicht erlebt haben? Antworten

Im Vergleich zu den beiden anderen OsterfragerEie(r)n ist das Echo diesmal bisher eher bescheiden. Offenbar deshalb, weil generationsbedingt hier nicht so viele lesen und schreiben, die persönliche Erinnerungen an 1968 haben.

Aber so eng war meine Frage eigentlich auch nicht gemeint. "Erinnerungen" hat man - das habe ich ja in dem Artikel zu erläutern versucht - auch aus zweiter Hand; als Bestandteile des "semantischen Gedächtnisses".

Deshalb also ein kleiner Aufruf oder Anstoß, oder wie man es nennen mag: Wie sehen diejenigen, die nicht "Zeitzeugen" waren, dieses Zeit um 1968 herum?

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

26.03.2008 19:11
#7 RE: Zettels OsterfragerEi (3): Erinnerungen an 1968 Antworten

Lieber Friedel B.,

herzlichen Dank für diesen Bericht, der mich auch persönlich berührt hat. An den knorrig-aufrechten Heinrich Düker kann ich mich noch gut erinnern; den müßten Sie eigentlich noch erlebt haben, oder?

Zitat von Friedel B.
Nur ein winziges Schlaglicht: Ich bin zwei Mal zum Fachschaftssprecher der Studenten meiner Fachrichtung (Psychologie; in Marburg damals in der Naturwissenschaftlichen Fakultät - einmalig in Deutschland!) gewählt worden, nämlich im 3. und im 6. Semester.

Ja, das ist eine interessante Sache, daß die Psychologie mal in der Philosophischen Fakultät, mal in der Naturwissenschaftlichen angesiedelt ist (heute oft auch in der sozialwissenschaftlichen Abteilung).

Die Ansiedlung bei den Naturwissenschaftlern (wie in Marburg auch z.B. in Göttingen und Frankfurt) liegt ja in der Tradition Wundts, auch wenn der einen Lehrstuhl für Philosophie hatte. Heute, mit der immer engeren Verzahnung von Psychologie und Neurowissenschaften, ist sie eigentlich wieder ganz "modern".
Zitat von Friedel B.
In meiner ersten "Amtszeit" hatte ich unter anderem über die Ostertage eine Zeltfreizeit am Edersee zu organisieren, aber auch Podiumsdiskussionen zwischen profilierten Repräsentanten der Psychologie zu veranstalten, die unterschiedliche Positionen vertraten (bei einer solchen Gelegenheit hatte ich das Glück, Hans-Jürgen Eysenck persönlich kennenzulernen).

Der damals ja unter heftigen Attacken stand. Ich wußte gar nicht, daß er damals nach Deutschland gekommen ist, um mit Studenten zu diskutieren.

Das muß für Sie, lieber Friedel B., ja eine spannende Zeit gewesen sein. Ich habe das damals mehr als, sagen wir, teilnehmender Beobachter verfolgt.
Zitat von Friedel B.
Mein Interesse galt nämlich damals (wie auch heute noch) in erster Linie den Menschen als Individuen; ich habe daher bis auf den heutigen Tag große Schwierigkeiten damit, in politischen Kategorien zu denken. Begriffe wie "Arbeiterschaft", "Establishment" und "Klassengesellschaft" oder gar "soziale Gerechtigkeit" sagen mir gar nichts; sie sind für mich tatsächlich nichts als ein "stimmlicher Hauch" (flatus vocis), wie die Nominalisten derartige Abstrakta nach meiner Ansicht überaus treffend bezeichnet haben.

Was die Marxisten genau umgekehrt gesehen haben (und natürlich sehen). Die Holzkamp-Leute, die damals ja sehr stark waren, wollten im Grunde die Psychologie abschaffen, dh sie in eine "Kritische Theorie" einbauen, die sozialwissenschaftlich sein sollte.

"Alles ist Gesellschaft" war die platteste Formel, die das ausdrückte. Jedes psychologische Experiment sei eigentlich eine soziale Situation. Selbst die Wahrnehmung - Ute Osterkamp war ja auch sehr einflußreich - sei "eigentlich" etwas Gesellschaftliches.

Daß diese Geringschätzung des Individuums und die Vergötterung der Gesellschaft nicht nur eine theoretische Position war, sondern stracks in die Untersdrückung des Individuums führen würde, habe ich anfangs nicht gesehen.

Das ist mir erst klargeworden, als aus den Seminarmarxisten die Kommissare der K-Parteien geworden waren.
Zitat von Friedel B.
Ich hatte daher damals einen schweren Stand; ich weiß noch genau, wie fassungslos ich reagiert habe, als eine (in meiner Erinnerung sehr schöne) Kommilitonin einen meiner damaligen und heutigen Lieblingsautoren, nämlich Stefan Zweig, mit dem Verdikt abtat, seine Novellen besäßen keine gesellschaftspolitische Relevanz und seien damit belanglos.

Ja - so, wie alle Wissenschaften als "letztlich gesellschaftlich" vereinnahmt wurden, so wurde auch die Kunst auf "gesellschaftliche Relevanz" reduziert. Schriftsteller wurden nicht nach der Qualität ihres Werks beurteilt, sondern danach, ob sie "progressiv" oder "reaktionär" seien.

Dadurch kamen mittelmäßige Autoren wie Max von der Grün zu großer Prominenz ("Arbeiterliteratur"), während andere (Ernst Jünger ist ein Beispiel) überhaupt nicht als Künstler, sondern nur als politisch mißliebig wahrgenommen wurden.

Bei manchen hatte man mit dem Einordnen freilich Schwierigkeiten. Mit Arno Schmidt zu Beispiel, der aus der Adenauer-Zeit den Ruf hatte, "links" zu sein. Als er dann in der Rede zur Verleihung des Goethepreises 1973 Auffassungen vertrat, die als "reaktionär" eingestuft wurden, änderte sich seine "Einschätzung" schlagartig.
Zitat von Friedel B.
Neben dem Interesse an meinem konkreten Gegenüber war allerdings auch die Tatsache, dass ich bei Studienbeginn bereits Leutnant der Reserve war, eine Ursache dafür, dass ich nie so recht zu den "68ern" gehörte und zumindest ein wenig gegenüber der Versuchung durch Utopien gefeit war.

Aus heutiger Sicht bewundere ich diejenigen, die damals dem als Studenten dem Zeitgeist so konsequent standgehalten haben wie z.B. Eberhard Diepgen und Roland Koch. Ich habe mich anfangs durchaus faszinieren lassen und erst Anfang der siebziger Jahre gemerkt, wohin der Hase läuft.
Zitat von Friedel B.
P.S. Erwähnenswert erscheit mir noch die Tatsache, dass die Beteiligung an den Wahlen zu den Studentenparlamenten trotz des überbordenden politischen Aktuvismus' in meiner Erinnerung damals so um die zwölf Prozent lag, also vermutlich ebenso gering war, wie sie es heute ist.

Viele haben nicht gewählt, weil sie mit denjenigen, die das große Wort führten, nicht einverstanden waren. (Das war allerdings nach meinem Eindruck um 1970 herum eine Minderheit). Viele haben nicht gewählt, weil sie dieses ganze repräsentative System ablehnten.

Sie gingen lieber in die "Vollversammlungen" und machten "Basisarbeit".

Ein Grund, lieber Friedel B., warum ich mich, wie Zuppi schreibt, immer wieder "selbstkritisch" mit dieser Zeit beschäftige, ist die Frage, warum so viele sich von einer solchen kollektiven Besoffenheit mehr oder weniger mitziehen ließen.

Von daher auch meine scharfe Kritik an Barack Obama: Er versucht wieder genau durch eine solche kollektive Emotionalisierung politisch erfolgreich zu sein. (Und manchen von denjenigen, die das damals nicht miterlebt haben, fehlt vermutlich das Verständnis dafür, wie schlimm das ist).

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

27.03.2008 03:40
#8 Warum wurden aus Antiautoritären autoritätsgläubige Kommunisten Antworten

Zitat von Chripa
Woran ich mich aber nur zu gut erinnern kann sind 68er, die für sich in Anspruch nehmen, "Deutschland erst richtig demokratisiert" zu haben usw. Das stimmt nicht, zwar haben sie ein geistiges Klima geschaffen, in dem man problemlos "USA-SA-SS" uä gröhlen konnte. Bei den wirklich wichtigen Fragen der Zeit wurde aber keine Abweichung geduldet.

Das, lieber Chripa, ist aus meiner heutigen Sicht das, was ich am Erschreckendsten finde. Und ich frage mich, wieso auch ich anfangs diesen "Bewegungs"-Charakter gar nicht so schlimm gefunden habe. Das hat sich - ich habe es anderswo schon geschrieben - bei mir erst geändert, als die Antiautoritären erst zu Pausenclowns und dann (einige) zu Terroristen wurden, die Seminarmarxisten zu Kommissaren und die Hippies zu intoleranten Weltverbesserern.

Nein, um Demokratie ist es nie gegangen, auch nicht am Anfang. Von Anfang an - auch in dieser ersten Phase der "Befreiuung von Zwängen", für die ich damals Sympathie hatte - wollte man Andersdenkenden nicht dieselben Rechte zugestehen, die man für sich selbst in Anspruch nahm. Die Intoleranz, die am Ende als ihre kriminellste Konsequenz die RAF und die "Bewegung 2. Juni" hervorbrachte, war von Beginn an da.

Zitat von Chripa
Sie haben in einem früheren Beitrag zu diesem Thema schon einmal diese Ambivalenz herausgearbeitet, die darin bestand, dass sehr viele 68er zunächst ultra-liberal waren, dann aber mehr oder weniger ansatzlos extrem autoritären Vorstellungen anhingen. Diesen Artikel meine ich:
http://zettelsraum.blogspot.com/2007/06/...e-zeit-der.html

Ich verstehe nicht, wie es dazu kommen konnte. Meinen Sie, es war so, dass diese Leute auf einmal eine Art Leere in sich gespürt haben und merkten, dass sie eigentlich doch jemand brauchen, der sagt,
wo es langgeht? Wieso diese Überreaktion? Oder war es doch mehr der Hass auf die Eltern, die ihnen permanent ihre Diszipliniertheit und große Aufbauleistung nach dem Krieg vorhielt?

Ich wollte, ich wüßte die Antwort, lieber Chripa.

Ich habe viel darüber nachgedacht - genügend Zeit hatte ich ja inzwischen.

Aber mehr als Vermutungen ist nicht dabei herausgekommen. Vermutungen auf verschiedenen Ebenen:

* Der persönlichen Ebene. Wie in dem Artikel geschrieben, den Sie verlinken - viele von denjenigen, die sich als Antiautoritäre hervortaten, hatten persönliche Probleme. (Nicht alle, man kann das sicherlich nicht so psychologisieren). Ich könnte mir denken, daß sie sich von der Freiheit, die sie so unbedingt hatten haben wollen, im Grunde überfordert fühlten. Es ging ihnen - so die Vermutung, wissen tue ich es ja nicht - ungefähr wie einem Kind, das von zu Hause ausreißt und, nachdem es gemerkt hat, wie unschön es in der Welt zugeht, heilfroh ist, wenn es wieder zu Muttern zurück darf.

Man kann es auch abstrakter sagen: Die Persönlichkeitsstruktur dieser autoritär Erzogenen war ja nicht dadurch zerstört worden, daß sie diese antiautoritäre Phase hatten. Am Ende wollten sie zurück zur Autorität; nur waren es jetzt Lenin und Mao, statt Papa und Mama, auf die sie hörten.

* Der sozialpsychologischen Ebene. Das ist, glaube ich, ein sehr wichtiger Punkt. Da gab es zunächst einmal ein allgemeines Laissez-faire. Alle waren gleich, in den "Gruppen" zogen sich die Diskussionen endlos hin, und nichts kam dabei heraus. Bis irgendwann jemand sagte: So geht das nicht weiter. Wir brauchen Strukturen.

Und es setzten sich diejenigen durch, die dominant waren, die fleißig waren, die intrigant waren; die "Führungsnaturen" halt. - Es ist die alte Geschichte, wie in jeder Revolution: Aus der unstrukturierten Gleichheit entsteht in kurzer Zeit nicht nur Autorität, sondern sehr oft Despotismus. Wenn man die Strukturen beseitigt, die zuvor das Zusammenleben regelten, dann entsteht nicht Friede, Freude, Eierkuchen, sondern es bilden sich die idealen Voraussetzungen dafür, daß sich die Starken und Skrupellosen durchsetzen.

* Die politische Ebene. Anfangs - bis vielleicht Ende 1968, Anfang 1969 - herrschte tatsächlich in einigen Ländern - jedenfalls in Deutschland und Frankreich, vermutlich auch in Italien, aber da kenne ich mich nicht aus - innerhalb der "Bewegung" die Erwartung, man stehe vor der Revolution. Die Sprüche des Mai '68 waren ja ernst gemeint, so lustig sie heute klingen (außer dem über den Groucho-Marxismus ). Es gab da eine ungeheure Selbstüberschätzung. "Die Herrschenden" waren "Papiertiger", denn sie hatten ja die Revoluzzer weitgehend gewähren lassen.

Und daraus wurde dann nichts. Die "Herrschenden" waren so unverschämt, nicht kampflos das Feld zu räumen. Es gab eine große Ernüchterung, und es verbreitete sich die Auffassung: Jetzt ist Schluß mit lustig. Jetzt müssen wir die Revolution auf die harte Art erreichen. Wobei "hart" eben von der Gründung von Kaderparteien mit straffer Disziplin bis zur Gründung von Mörderbanden reichte.

So ungefähr sehe ich das heute, lieber Chripa. Und wie schon andernorts geschrieben - wenn ich jetzt wieder eine solche kollektive Besoffenheit sehe wie in den Veranstaltungen von Barack Obama, dann kommen mir Erinnerungen.

Herzlich, Zettel



Zettel Offline




Beiträge: 20.200

27.03.2008 04:29
#9 RE: Zettels OsterfragerEi (3): Erinnerungen an 1968 Antworten

Zitat von R.A.
Die nächsten konkreten Erinnerungen kommen dann 1972 mit dem Olympia-Attentat und den nachfolgenden Kampf gegen den Terrorismus, das hat uns recht nachhaltig geprägt.

Ja, das war noch einmal eine Zäsur.

Die "fröhlichen Spiele" - das war sozusagen ein Nachklapp dieser fröhlichen, hippiehaften ersten Phase der 68er Zeit. Dieses Lebensgefühl, auf das ganze Volk ausgedehnt.

Und dann kam diese entsetzliche Ernüchterung. Ich kann mich erinnern, wie wir an den Radios hingen, und es kam erst die Falschmeldung: "Scharfschützen" (so nannte man das damals, Einsatzkommandos gab es ja noch nicht) hätten die Geiseln heil befreit.

Und erst allmählich kam heraus, daß es ganz anders gewesen war. Und noch viel später erfuhr man, daß diese "Scharfschützen" ganz normale Polizisten gewesen waren, nur mit ein wenig extra Schießausbildung.

Damals begann eigentlich erst die "Aufrüstung des Staats" gegen den Terrorismus. Und man begann in der deutschen Öffentlichkeit zu verstehen, daß die RAF-Leute nicht "ein paar junge Leute in Unterhosen" waren (so ungefähr hatte es der damals sehr bekannte Psychologe Ernest Bornemann in einem Interview als Kommentar zu den Bildern von der Verhaftung von Baader u.a. gesagt), sondern daß der Terrorismus ein internationales Problem war.

Ich habe, lieber R.A., meine kleine Serie über die Achtundsechziger, die ich jetzt wieder verlinkt habe, damals abgebrochen, als ich in der Zeit des beginnenden Terrorismus angekommen war.

Dazu wäre noch viel zu schreiben - wie groß in den siebziger Jahren die Zahl der "klammheimlichen" Sympathisanten dieser Verbrecher gewesen ist. Wieviele, die auf dem Weg zu einer Beamtenkarriere als Lehrer oder Hochschullehrer waren, zugleich innerlich auf der Seite der Mörder gestanden haben. Wie das, was die Kommunisten damals erfolgreich als "Berufsverbote" verunglimpften, eine dringende Abwehrmaßnahme des demokratischen Rechtsstaats gewesen ist.

But that's another story.

Herzlich, Zettel

Zettel Offline




Beiträge: 20.200

27.03.2008 05:03
#10 DDR 1953, Ungarn 1956, CSSR 1968 Antworten

Zitat von Ungelt
... und nach Prag kam etwas, was sich Freiheit nannte. Eine absolut einmalige Zeit. Aber schon am Jahresende klar, daß das alles nie wieder kommen kann, und daß ich daran noch lange werde "knabbern" müssen.

Ich habe das dreimal erlebt, lieber Ungelt, wie solch ein Aufstand zusammenbricht. 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der CSSR.



1953 erschien mir das nur wie ein fernes Unglück. Ich hatte eine ganz gute Vorstellung davon, wie es in der DDR war, weil ich schon den "Spiegel" las und weil meine Familie Verbindungen dorthin hatte. Als wir erfahren haben, daß etwas im Gange war, haben wir zugleich auch von der Niederschlagung erfahren. Eine Zeit der Hoffnung gab es also - nach dem, was ich Knirps damals mitbekam - nicht.



Ganz anders war das 1956 in Ungarn. Da waren ja die Sowjet-Truppen schon abgezogen, die Revolution schien schon gesiegt zu haben. Sie hatte ihre Helden wie Imre Nagy und den General ... ich glaube, Maleter hieß er.

Es war eine richtige Revolution, mit allen ihren blutigen Erscheinungen. Der "Spiegel" brachte damals über etliche Seiten seitenfüllende Bilder, die zeigten, wie ein Geheimpolizist gelynchnt wurde. (Augstein hat in der anschließenden Nummer begründet, warum man das brachte).

Und zugleich war ja der Suez-Krieg. Es gab damals beim "Spiegel" die Kuriosität, daß er in derselben Woche mit zwei verschiedenen Titelbildern erschien: Ein Teil der Auflage mit Imre Nagy, der andere mit einem ägyptischen General, ich glaube, er hieß Amir oder so ähnlich.

Also, das war die politisch turbulenteste Woche, die ich bis dahin erlebt hatte. Und dann hieß es plötzlich in den Nachrichten, sowjetische Panzer hätten die Grenze nach Ungarn überschritten. Aus der Traum. Nagy und andere wurden ja später von den Sowjets nach "Prozessen" ermordet; damals zeigte der Kommunismus sein Gesicht noch etwas deutlicher als später.

Als ich Anfang der sechziger Jahre studierte, hatten wir viele Ungarn als Kommilitonen, die es 1956 geschafft hatten, über Österreich nach Deutschland zu flüchten. Ich glaube, die Erinnerung daran spielte in Ungarn auch eine Rolle, als 1989 genau diese Grenze als erste geöffnet wurde.



1968 in Prag: Dieser "Prager Frühling" war fast zuviel an Nachrichten in dieser aufregenden Zeit. Viele - auch ich - glaubten, der "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" hätte eine Chance. Der "Dritte Weg". Jiri Pelikan und Eduard Goldstücker wurden ständig zitiert, aber niemand (auch ich nicht) hat herauszubekommen versucht, was sie eigentlich genau wollten.

Ich glaube, wir dachten einfach: Sozialismus plus Wohlstand plus Freiheit plus Rechtsstaat - das isses doch. Sozusagen das Ei des Kolumbus. Es war aber die Quadratur des Kreises.

Anders als 1956 waren die deutschen Kommentare, als dann die Kommunisten auf ihre eigene, unnachahmliche Art wieder einmal Ordnung geschaffen hatten, keineswegs durchweg von Empörung gekennzeichnet. Sondern viele sagten: Breschnew hatte ja keine Wahl. Dubcek und Swoboda haben den Bogen überspannt, und jener Parlamentspräsident mit dem Bürstenhaarschnitt (Smrkovsky?).

Was hätte denn - so gingen viele Kommentare - Breschnew machen sollen? Zusehen, wie in der CSSR der Kommunismus abgeschafft wird? Zusehen, wie der Virus übergreift, wie der Warschauer Pakt zerfällt?

Damals war, eben anders als 1956, schon eine Stimmung vorhanden, die dann in den siebziger Jahren immer mehr um sich griff: Man hat sich sozusagen in die Lage der kommunistischen Herrscher versetzt, hat die Dinge von ihrem Standpunkt aus beurteilt. Nicht alle natürlich, aber doch viele Kommentatoren, bis hinein in die liberale Presse.

Zitat von Ungelt
Aber zu 68, wie es in Westeuropa erlebt wurde: Ich habe nur gestaunt, was da ablief. Ich glaube, wenn Ausserirdische geladet wären, hätte ich nicht mehr staunen können. Totaler Irrsinn, nichts begriffen. Nur, daß es etwas verdammt tief sitzendes in der Seele der Menschen sein muß, war irgendwie deutlich. Unbekannt, bedrohlich, kompliziert. Die Situation in Prag war so fabelhaft eindeutig, es gab das eindeutig "Böse", und der Rest war (noch) ein riesiger glücklicher "Freundeskreis".

Eigentlich hätten die deutschen Achtundsechziger ja mit Begeisterung auf der Seite des Prager Frühlings stehen müssen. Es gab das auch, aber es gab auch damals schon viele andere, die auf der Seite der Sowjets standen.

Ich habe damals, unmittelbar nach dem Einmarsch des Warschauer Pakts, an einer Demonstration in Dortmund gegen diesen Gewaltakt teilgenommen. Organisiert nicht von linken Studenten, nicht von der APO, sondern von der SPD. Es sprach, wenn ich mich recht erinnere, Hans Jürgen Wischnewski, ein "Rechter" in der SPD.

Herzlich, Zettel

Thomas Pauli Offline




Beiträge: 1.486

27.03.2008 07:37
#11 RE: Warum wurden aus Antiautoritären autoritätsgläubige Kommunisten Antworten
Lieber Zettel,

In Antwort auf:
Ich könnte mir denken, daß sie sich von der Freiheit, die sie so unbedingt hatten haben wollen, im Grunde überfordert fühlten.


da ist sicher etwas dran. Nicht umsonst wurde ja behauptet, daß die Voraussetzung für Freiheit die soziale Sicherheit sei. Ich könnte mit gut vorstellen, daß der Kampf um die soziale Sicherheit der "Massen" auch in der Absicht geführt wurde, sich dabei auch ein schönes Plätzchen zu sichern, zumal man dann als Angehöriger der Avantgarde vielleicht Anspruch auf ein ganz besonders schönes Plätzchen hätte...

Herzlich, Thomas

P.S.: A propos Kampf: Ist Dir eigentlich auch aufgefallen, wie martialisch die Rhetorik heutzutage geworden ist? Niemand setzt sich mehr für etwas ein, alle "kämpfen" nur noch.

P.S.P.S.: Und hier (http://www.timesonline.co.uk/tol/news/uk/article3558639.ece) noch ein schöner Artikel dazu. Kostprobe:

"The way he remembers it is that the 1950s was the last time that liberty opened up only when you left your youth behind you. By the mid1960s young people started off with more liberty than they knew what to do with, but confused it with sexual liberation and the freedom to get high so it all went to waste – wasted, that is, in a cultural revolution rather than social revolution."
Zettel Offline




Beiträge: 20.200

27.03.2008 15:07
#12 RE: Warum wurden aus Antiautoritären autoritätsgläubige Kommunisten Antworten

Zitat von Tom Stoppard
"The way he remembers it is that the 1950s was the last time that liberty opened up only when you left your youth behind you. By the mid1960s young people started off with more liberty than they knew what to do with, but confused it with sexual liberation and the freedom to get high so it all went to waste – wasted, that is, in a cultural revolution rather than social revolution."

Wobei man, lieber Thomas, über dieses "Verschwenden" nur froh sein kann.

Tom Stoppard ist ja ein komplexer Denker, und sein Beitrag scheint mir auch sehr vielschichtig zu sein. Aber daß eine beabsichtigte soziale Revolution am Ende nur eine Kulturrevolution wurde - darin hat er sicher Recht. Und wir können uns glücklich schätzen, daß es so ist.



Und jetzt ein PS, das so etwas von off topic ist, wie etwas nur off topic sein kann. Neben dem Artikel findet man eine Karikatur, die ich so britisch und so lustig fand, daß ich nicht darauf verzichten mag, sie zu verlinken. (Leider etwas lütt, aber das "Hingucken" lohnt sich. )

Herzlich, Zettel

Thomas Pauli Offline




Beiträge: 1.486

27.03.2008 16:20
#13 RE: Warum wurden aus Antiautoritären autoritätsgläubige Kommunisten Antworten

Lieber Zettel,

klar bin ich über dieses "wasted" froh - es ist schon schlimm genug, was mit der Restenergie angerichtet wurde!

Herzlich, Thomas

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