ich habe gestern - auch angespornt durch den Willensfreiheit-Thread - ein wenig im SPON-Forum zum Thema Inzestfall in Amstetten geschmökert. Die Ausgangsfrage lautete nämlich: "Verbrechen - handeln Straftäter wie J. Fritzl aus freiem Willen?": http://forum.spiegel.de/showthread.php?t=3887
Die Kommentare der Foristen zeigen eine ganz typische menschliche Eigenschaft im Umgang mit Extremen: Man versucht, eine Untat weniger böse zu machen, indem man es sozusagen einhegt. Da gibt es mehrere Strategien:
1. Die Schuld vergesellschaften. Beispiel: "Die Religion ist schuld."
"Unsere Kultur ist geprägt durch das Bild eines angeblich allmächtigen, männlichen Gottes, der auch noch dafür gepriesen wird, seinen eigenen Sohn geopfert zu haben. Der nicht eingegriffen hat, als man diesem die Nägel durch Hände und Füße getrieben hat. Wer jetzt noch Fragen stellt, wie es denn zu solchen Verbrechen wie dem in Amstetten kommen kann, der hat die Sache noch nicht bis zum Grunde durchdacht." (#44)
2. Die Tat als Extremfall des Gängigen darstellen, im Sinne von: "Die meisten Menschen missbrauchen andere, aber gehen nicht so weit"
"Es gibt auch andere Despoten. Innerhalb und außerhalb von Familien. Männlich wie weiblich. So unbekannt ist dieses Charakterbild ja nicht. "Führungspersönlichkeiten" versuchen in der Regel nichts anderes. Beherrschen und kujonieren von Anderen. Nur eben nicht zur Befriedigung ihres Gesschechtstriebes. Oder doch? Der Täter ist immer auch in uns." (#36)
3. Die Verantwortung im Vergleich mit vermeintlich Schlimmerem vom Täter wegnehmen. Beispiel: "Schon schlimm, aber ein Klacks im Vergleich zu Bush":
"Irrelavant ob ein "böser" Mensch wie J.F.weniger freien Willen hat oder ein "guter" wie G.W.Bush, hauptverantwortlich für 600.000 Tote..."
Alternative: "Bush macht das auch, und da regt sich keiner auf"
"Unmenschliche Haftbedingungen, Dunkelhaft oft über Monate, totale soziale Isolation über Jahre, gibt es sogar in staatlich sanktionierter Form. Ich empfehle mal einen Blick in die 350 Todeszellen in Huntsville/Texas oder Militärgefängnisse in Afgahnistan oder im Irak. Russische Rekruten bringen sich um, weil sie die Quälereien nicht aushalten. Kinder werden vergewaltigt, umgebracht, in Kriegen überall auf der Welt. Aber wenn´s vor der Haustür passiert, ist man betroffen." (#26)
Diese Beiträge musste ich nicht mühsam suchen, sie stammen alle aus den ersten 5 Seiten des Threads.
Nun meine Frage: Warum tut sich unsere Gesellschaft so schwer, eine schwere Straftat als das zu sehen was sie ist? Nämlich die Verfehlung eines einzelnen, dafür in vollem Umfang verantwortlichen Individuums! Warum müssen immer Zusammenhänge gesucht werden, die die Verantwortlichkeit reduzieren? Und die berühmte "schwere Kindheit" ist da noch eine der weniger abstrusen Thesen...
Zitat von Meister PetzNun meine Frage: Warum tut sich unsere Gesellschaft so schwer, eine schwere Straftat als das zu sehen was sie ist? Nämlich die Verfehlung eines einzelnen, dafür in vollem Umfang verantwortlichen Individuums! Warum müssen immer Zusammenhänge gesucht werden, die die Verantwortlichkeit reduzieren?
Ein erster Versuch, lieber Meister Petz: Es handelt sich um eine Reaktionsbildung.
Der natürliche Impuls - auch derer, die so etwas schreiben, wie Sie es zitieren - ist Abscheu und (ja, das doch auch!) der Wunsch nach Rache.
In anderen Foren als bei SpOn wird man das sicher auch finden - die "Rübe ab!"-Reaktion.
Und da gibt es nun eine Sozialisation, die ja auch nicht falsch ist (meines Erachtens jedenfalls), die uns lehrt: Solchen Impulsen sollte man nicht nachgeben.
Nicht der spontanen Ablehnung des Fremden, die wir als Impuls alle in uns haben. Im Gegenteil, wir sollen Multikulti schön, bereichernd usw. finden. Nicht der spontanen Ablehnung des Häßlichen in der Kunst; wir sollen das als kreativ usw. schätzen lernen.
Und eben auch nicht dem spontanen Rache-Impuls, wenn ein solches Scheusal wie dieser Fritzl mit seinen Taten bekannt geworden ist.
Das wird nun - so meine These - zu einer Reaktionsbildung, die am Ende zu einem nicht weniger irrationalen Resultat führt, wie es der atavistische Impuls selbst ist. Es wird gewissermaßen nur das Vorzeichen gewechselt.
Und das paßt natürlich wunderbar in eine Ideologie, die eh "den Menschen für gut" hält und alles Böse "der Gesellschaft" in die Schuhe schieben möchte.
Insbesondere der kapitalistischen, insbesondere der amerikanischen, insbesondere Präsident Bush. Wobei man dann bei einer solchen Absurdität landet, wie Bush mit Fritzl in Zusammenhang zu bringen.
Soviel erst einmal. Ich bin gespannt, was andere dazu meinen.
Zitat von ZettelNicht der spontanen Ablehnung des Fremden, die wir als Impuls alle in uns haben. Im Gegenteil, wir sollen Multikulti schön, bereichernd usw. finden. Nicht der spontanen Ablehnung des Häßlichen in der Kunst; wir sollen das als kreativ usw. schätzen lernen.
Lieber Zettel,
das ist bestimmt ein Motiv, das dahintersteht. Ich denke nur an die Ästhetisierung des 11. September als größtes Kunstwerk (Stockhausen). Nun lässt sich Fritzl als Spießer und patriarchalischer Vergewaltiger nicht politisch korrekt ästhetisieren, also fällt diese Möglichkeit aus.
Ich habe noch einen anderen Ansatzpunkt, und zwar in der Vergesellschaftung zwischenmenschlicher Beziehungen im modernen Rechts- und Sozialstaat. Es ist doch so: Immer mehr ursprünglich in der Verantwortung der Individuen, Familien und sonstiger lokaler Gemeinschaften liegende zwischenmenschliche Bereiche fallen an den Staat oder unterliegen zumindest seiner Kontrolle: Gesundheitsversorgung, Kindererziehung, Regelung von Konflikten und vieles mehr. Und das hat m. E. auch Einfluss auf die Wahrnehmung von persönlicher Verantwortung. Das hat zwei Effekte:
1. Man sucht die Verantwortung nicht beim Individuum, weil für das Verhalten der Individuen der Staat/die Gesellschaft zuständig ist. Hätte er es halt besser geregelt (bestes Beispiel: Rauchverbot).
2. Man ist es demzufolge nicht mehr gewöhnt, Menschen mit Fehlern zu konfrontieren. Wieso soll ich einen Konflikt mit meinem Nachbarn suchen, wenn der mitten in der Nacht seinen Rasen mäht? Dafür gibt es Gerichte! Und ich denke, dass diese Denke dazu führt, Fehler immer "systemisch" zu suchen. Ein Kind ist strohdumm und stinkfaul? Na klar, schuld ist das dreigliedrige Schulsystem. Oder die Benachteiligung wegen Migrationshintergrund. Oder das Klima. Oder im Zweifel George Bush (der ist keine Person, sondern Projektionsfläche für das Sytem alles Bösen in der Welt).
Zitat von ZettelUnd das paßt natürlich wunderbar in eine Ideologie, die eh "den Menschen für gut" hält und alles Böse "der Gesellschaft" in die Schuhe schieben möchte.
Das Verquere an der Ideologie ist aber doch, dass sie den Menschen eben nicht für gut hält, jedenfalls außerhalb eines abstrakten Rousseauschen Urzustandes. Im Gegenteil, sie traut ihm nicht über den Weg! In eben dieser Ideologie sind alle Männer potenzielle (Welch Wortspiel!) Vergewaltiger, alle Unternehmer Ausbeuter, alle Amerikaner blutrünstige Waffennarren.
Interessanterweise wird auch zwischen Staat und Gesellschaft unterschieden. Die Gesellschaft ist das korrumpierende Element, das den Menschen dem Urzustand entfremdet. Der Staat ist dagegen die einzige Kraft, die den Menschen vor der Korruption der anderen bewahren kann und soll.
Komisch, dass dieses Paradox so erfolgreich verdrängt werden kann.
Zitat von Meister PetzIch habe noch einen anderen Ansatzpunkt, und zwar in der Vergesellschaftung zwischenmenschlicher Beziehungen im modernen Rechts- und Sozialstaat. Es ist doch so: Immer mehr ursprünglich in der Verantwortung der Individuen, Familien und sonstiger lokaler Gemeinschaften liegende zwischenmenschliche Bereiche fallen an den Staat oder unterliegen zumindest seiner Kontrolle: Gesundheitsversorgung, Kindererziehung, Regelung von Konflikten und vieles mehr. Und das hat m. E. auch Einfluss auf die Wahrnehmung von persönlicher Verantwortung.
Das ist ja, lieber Petz, eine eigenartige Widersprüchlicheit der Moderne: Sie hat das selbstverantwortliche "bürgerliche Individuum" überhaupt erst geschaffen, macht ihm aber zugleich den Garaus damit, daß es als Produkt eben jener Gesellschaft verstanden wird, der es seine Existenz verdankt.
In traditionellen Gesellschaften, auch in der europäischen bis zur Aufklärung, hatte das Individuum seinen Platz in der Gesellschaft, der sein Verhalten weitgehend bestimmte. Man war Mann oder Frau, man war Handwerker, Bauer, Student, Adliger - mit einer weitgehenden Festlegung des eigenen Verhaltens durch diese Rollen. Und niemand fand etwas dabei, daß ein Mädchen das nicht durfte, was eine Frau durfte; daß der Bürger vorgeschrieben bekam, wie er sich kleiden durfte; daß selbstverständlich niemand seine Religion frei wählen durfte oder die Länge seines Schuhschnabels. Auch die Sklaverei gehört zum Beispiel in diesen Kontext, die uns heute als Barbarei erscheint. Aber noch Montesquieu (wenn ich mich richtig erinnere) hat sie verteidigt.
Die Idee der Aufklärung von der universellen Gleichheit hat dem allen den Garaus gemacht. Und damit nicht nur jedem die Freiheit gegeben, sein Leben selbst zu gestalten, sondern zugleich die Verantwortung dafür. Eine ungeheure Verantwortung, die Luther als einer der ersten gespürt hatte. Die Freiheit eines Christenmenschen ist eben auch eine Last. Die Freiheit, die die protestantische Ethik gewährt, verlangt zugleich eine große Selbstkontrolle.
Man kann diese Freiheit so verstehen, daß jeder für sich verantwortlich ist. Man kann sie aber auch als die Freiheit zum social engineering verstehen. Als die Freiheit, die Gesellschaft schrankenlos umzugestalten; den anderen ihr Glück aufzuzwingen, ob sie wollen oder nicht.
Das sind die beiden Varianten dessen, was beides in der Auflärung angelegt war, die ihren jeweiligen revolutionären Ausdruck in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution gefunden haben.
In den USA ist ein "land of the free" entstanden. In Europa wird seit der Französischen Revolution mit "Gesellschaftsmodellen" herumexperimentiert, die alle auf einer neuen Gliederung der Gesellschaft beruhen: In die Ingenieure und in diejenigen, die den Stoff für ihre Versuchsaufbauten sind.
Und damit sind wir, lieber Meister, bei der Verantwortlichkeit. Verantwortlich sind die Ingenieure, nicht ihre Objekte.
Das sieht nun auf verschiedenen Ebenen ganz unterschiedlich aus. Verantwortlich für die Zustände in Anfrika sind die Kolonialherren, die Weltbank usw., nicht die Afrikaner. Verantwortlich für schlechte Kindererziehung sind das Schulsystem, die Überlastung der Frau usw., nicht die Eltern. Und verantwortlich für Verbrechen sind nicht die Verbrecher, sondern die Gesellschaft, die sie dazu gemacht hat.
Oder, neueste und putzigste Variante: Ihre Gehirne.
Zitat von ZettelUnd das paßt natürlich wunderbar in eine Ideologie, die eh "den Menschen für gut" hält und alles Böse "der Gesellschaft" in die Schuhe schieben möchte.
Das Verquere an der Ideologie ist aber doch, dass sie den Menschen eben nicht für gut hält, jedenfalls außerhalb eines abstrakten Rousseauschen Urzustandes. Im Gegenteil, sie traut ihm nicht über den Weg! In eben dieser Ideologie sind alle Männer potenzielle (Welch Wortspiel!) Vergewaltiger, alle Unternehmer Ausbeuter, alle Amerikaner blutrünstige Waffennarren.
Aber nur, weil "die Gesellschaft" sie dazu gemacht hat.
Marx hat das ja oft betont, daß er nichts gegen den Kapitalisten als Individuum hat; das mag ja ein netter Kerl sein. Sondern gegen den Kapitalismus, der ihn zwingt, sich so zu verhalten, wie er es tut.
Ähnlich ist es im Feminismus, jedenfals seiner, sagen wir, harten Variante: Die Gender sind nur Rollen, zu denen uns "die Gesellschaft" konditioniert. Man lasse die kleinen Jungs mit Puppen spielen und ihren Brei selbst anrühren - und sie sind als Männer keine potententiellen Vergewaltiger mehr. Man bringe den kleinen Mädchen Spaß am Rumballern mit der Spielzeugpistole bei, und sie werden zu aggressiven Kämpferinnen.
Es war ungenau, wenn ich geschrieben habe, daß man den Menschen für "gut" hält, da haben Sie Recht. Sondern man sieht ihn als formbar.
Von daher ja diese Wissenschaftsfeindlichkeit, wenn es um bestimmte Bereiche der Forschung geht - Genetik, evolutionäre Psychologie, Intelligenzforschung. Wer die schlichte empirische Wahrheit vertrat, daß bei der Intelligenz die Varianz zu rund 50 Prozent durch genetische Faktoren bedingt ist, der wurde noch vor ein paar Jahren als Faschist beschimpft und, wie der große Forscher Arthur Jensen, sogar persönlich verfolgt.
Zitat von Meister PetzInteressanterweise wird auch zwischen Staat und Gesellschaft unterschieden. Die Gesellschaft ist das korrumpierende Element, das den Menschen dem Urzustand entfremdet. Der Staat ist dagegen die einzige Kraft, die den Menschen vor der Korruption der anderen bewahren kann und soll. Komisch, dass dieses Paradox so erfolgreich verdrängt werden kann.
Ja, dieser linke, dieser jakobinische Etatismus ist schon interessant.
Vielleicht interessiert Sie, lieber Meister Petz, was ich dazu einmal in der Frühzeit von ZR geschrieben habe.
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