Man kann es nicht oft genug sagen: Der "Spiegel" ist immer noch ein vergleichsweise zuverlässiges Medium, in dem jede Tatsachenbehauptung penibel von dem Ressort Dokumentation geprüft wird, bevor sie in Druck geht. "Spiegel-Online" dagegen ist schlampig gemacht, berichtet oft tendenziös und scheut auch nicht Manipulationen.
Wie zum Beispiel im jetzigen Fall, wo der gedruckte Spiegel über Gerüchte aus der OSZE-Zentrale in Wien berichtete und "Spiegel-Online" daraus Berichte an die deutsche Bundesregierung machte.
Jetzt bin ich auf einen Bericht der Komsomolskaya Prawda gestoßen, der größten russischen Tageszeitung, wirtschaftlich mit Gazprom verbunden. Er stammt vom Sonntag:
Zitat von Komsomolskaya PrawdaSpiegel prepares to let loose "informational time bomb" against Georgian authorities
KP.RU, Yulia Kuprina — 31.08.2008
«Шпигель» взорвет под Грузией информационную «бомбу»
Germany’s Spiegel magazine announced the cover story of their new issue earlier this week, which will hit stands worldwide on Sept. 1. (...)
The article’s teaser promises an informational time bomb that is sure to complicate things for Georgia. Its authors claim that piles of evidence have accumulated at the OSCE headquarters detailing the Georgian authorities’ unsavory decisions that resulted in the conflict. Spiegel also notes that governmental bodies in Berlin have received information compiled by OSCE military observers in the Caucasus (via unofficial channels) that prove Georgia began the conflict.(...)
These facts, which have been known to Russians from the very start of the conflict, are being sold as a genuine sensation in the West. This is a clear demonstration of how Western media has provided biased coverage of the conflict.
Laut Komsomolskaya Prawda handelt es sich also um eine Titelgeschichte des "Spiegel" (tatsächlich hat er eine Titelgeschichte über Schmerztherapie). Der Artikel enthalte eine "Informations-Zeitbombe". Danach würden sich in der Zentrale der OSZE "Beweise häufen", die die "widerwärtigen Entscheidungen" der Regierung Georgiens belegten. Die Regierung in Berlin habe Informationen erhalten, die von Militärbeobachtern im Kaukasus zusammengetragen worden seien und die belegten, daß Georgien den Konflikt begonnen hätte.
Diese Tatsachen, die den Russen vom Beginn des Konflikts an geläufig seien, würden im Westen als echte Sensation verkauft. Das zeige klar, wie einseitig die westlichen Medien berichtet hätten.
Ganz schön phantasievoll also, dieser Bericht. Man könnte sagen, er setzt die "Stille Post" fort und verhält sich zur Meldung in "Spiegel-Online" ungefähr so, wie diese zum ursprünglichen Text im gedruckten "Spiegel": Noch mal eins draufgesetzt.
Ja, lieber Zettel, "böse Zungen" würden jetzt antworten: und damit erst gar keine anderen Fakten auf den Tisch kommen, etwa von Berichterstattern vor Ort, hat man eben ganz schnell eine Kugel im Kopf und das unter Polizeischutz.
Und hier noch etwas zum Thema Deutsche Berichterstattung und wie seriös wir informiert werden:
Wenn ein gebührenfinanzierter Sender, der durch Meinungsinstitutionen wie Tagesschau und Tagesthemen bei den deutschen Zuschauern ein hohes Ansehen genießt, dem immer noch wahrheitsgemäße Berichterstattung unterstellt wird, ein Interview ohne Hinweis kürzt, dann kann man ihm nur „Zensur durch Weglassen“ bescheinigen. (Man lese die Folgen der „Emser Depesche“ im Geschichtsbuch nach!)
ich stimme Ihnen zu, das ist ein Beispiel des grausigen Journalismus. Dies trifft aber auch auf den zitierten Spiegel-Beitrag zu. Ich kann schon lange nicht verstehen, wie ein Leser hierzulande Formulierungen und Begriffe, wie 'durchsickern von Informationen', 'es häufen sich', 'zunehmend', 'Experten' ohne den geringsten Versuch der Qualifizierung derselben zu machen. Der Leser wird es schon so lesen, wie es beabsichtigt war, nicht unbedingt, wie es richtig ist. So passiert das dann auch beim Weiterzitieren.
Ich bin nicht vom journalistischen Fach, aber diese Art Artikel gehören m.E. nicht zu einer seriösen Presse.
Zitat von MartinIch kann schon lange nicht verstehen, wie ein Leser hierzulande Formulierungen und Begriffe, wie 'durchsickern von Informationen', 'es häufen sich', 'zunehmend', 'Experten' ohne den geringsten Versuch der Qualifizierung derselben zu machen. Der Leser wird es schon so lesen, wie es beabsichtigt war, nicht unbedingt, wie es richtig ist.
Das ist ein interessantes Thema, lieber Martin, gerade beim "Spiegel".
Ich lese gerade die Augstein-Biografie von Dieter Schröder (nicht die beste, aber die einzige, die ich noch nicht kenne). Dabei ist mir wieder das widersprüchliche Konzept des "Spiegel" aufgefallen:
Einerseits war er anfangs (vom Major Chaloner, aber auch von Augstein selbst und seinen Mitstreitern) als Nachrichtenmagazin à la Time Magazine konzipiert. (Das unmittelbare Vorbild war ein britischer Time-Clone, der bald einging; von ihm stammen die roten Streifen auf der Titelseite). So wurde es auch im "Spiegel-Statut" festgehalten - die Fakten der Woche, in Form von interessanten, gut geschriebenen, auf Personen orientierten Stories zu bringen. Für den, der keine Zeit hat, gründlich die Tageszeitung zu lesen. Plus Hintergrund-Informationen.
Aus diesem Konzept heraus ist das Ressort Dokumentation aufgebaut worden, das jede Tatsachenbehauptung penibel prüft. (Früher per Hand: Die Fakten im Manuskript wurden markiert und dann jeder einzelne geprüft und nach Prüfung durch eine weitere Markierung zur Publikation freigegeben).
Andererseits stand und steht der "Spiegel" aber in der Tradition der europäischen Meinungspresse. Insofern ist er gar kein Nachrichtenmagazin, sondern er nimmt Partei. Viele Stories haben eine Tendenz.
Und das, lieber Martin, führt zu dem eigenartigen Stil, den Sie zu Recht kritisieren.
Gut möglich, daß die Autoren des Artikels (aus Deutschland Ralf Beste, aus Moskau Uwe Klussmann, aus Washtington Gabor Steingart) weniger schwammige Formulierungen in ihrem Ms stehen hatten. Aber die Dokumentation hat ihnen das nicht durchgehen lassen.
Wenn man im "Spiegel" solche Formulierungen liest wie "womöglich", "offenbar" "haben ... erzählt" (alle aus der in meinem Artikel zitierten Passage) oder auch "XYZ erinnert sich:", "ist zu hören" usw., dann bedeutet das immer: Die betreffende Faktenbehauptung konnte von der Dokumentation nicht verifiziert werden. (Oder der Justiziar hat sie nicht durchgehen lassen).
Geübte "Spiegel"-Autoren kennen das natürlich und formulieren ihre Mss von vornherein so, daß die Dokumentation möglichst wenige nicht verifizierbare Faktenbehauptungen aufspüren kann.
Dann verwenden sie solche relativierenden, schwammigen Formulieren. Der Leser achtet darauf aber meist nicht. Und die Kollegen von "Spiegel-Online", die kein Ressort Dokumentation im Nacken sitzen haben, betreiben ungehemmt Agitation.
Befehl des Oberst an den Bataillonskommandeur: "Morgen Abend gegen 20 Uhr ist von hier aus der Halleysche Komet sichtbar, dieses Ereignis tritt nur alle 75 Jahre ein. Veranlassen Sie, dass sich die Leute auf dem Kasernenplatz im Dienstanzug einfinden. Ich werde ihnen diese seltene Erscheinung erklären. Wenn es regnet, sollen sich die Männer ins Kasernenkino begeben, dann werde ich ihnen Filme dieser seltenen Erscheinung zeigen."
Befehl des Bataillonskommandeurs an die Kompaniechefs: "Auf Befehl des Herrn Oberst wird morgen um 20 Uhr der Halleysche Komet hier erscheinen. Lassen Sie die Leute bei Regen im Dienstanzug antreten und marschieren Sie zum Kino. Hier wird diese seltene Erscheinung stattfinden, die nur alle 75 Jahre eintritt."
Befehl eines Kompaniechefs an einen Leutnant: "Auf Befehl des Herrn Oberst ist morgen um 20 Uhr Dienst im Dienstanzug. Der berühmte Halleysche Komet wird im Kino erscheinen. Falls es regnet, wird der Herr Oberst einen anderen Befehl erteilen, was nur alle 75 Jahre eintritt."
Befehl eines Leutnants an einen Feldwebel: "Morgen um 20 Uhr wird der Herr Oberst im Kino, zusammen mit dem Halleyschen Kometen, auftreten. Dieses Ereignis tritt nur alle 75 Jahre ein. Falls es regnet, wird der Herr Oberst dem Kometen die Anweisung geben, hier bei uns im Dienstanzug zu erscheinen."
Befehl eines Feldwebels an einen Unteroffizier: "Wenn es morgen um 20 Uhr regnet, wird der berühmte 75 Jahre alte General Halley im Dienstanzug und in Begleitung des Herrn Oberst seinen Kometen durch unser Kasernenkino fahren lassen."
Befehl eines Unteroffiziers an die Mannschaft: "Stillgestanden! Wenn es morgen um 20 Uhr regnet, wird der 75 jährige General Halley in Begleitung des Herrn Oberst einen Kometen fahrenlassen. Ich bitte mir respektvolles Benehmen dabei aus. Wegtreten!"
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