In Deutschland wäre es kaum eine Meldung. In Frankreich führte es zu einer Sitzung beim Staatspräsidenten, der drakonische Maßnahmen ankündigte: Beim Spielen der Marseillaise gab es gestern Pfiffe.
Also ich finde diesen Beißreflex befremdlich und für die Reaktion der französischen Regierung geht mir fast "lächerlich" über die Lippen. Beim Vaterland reagieren Deutsche nicht so pikiert, das stimmt. Aber es gibt andere Themen. Zum Beispiel beim Holocaust und Israel versteht man in Deutschland überhaupt keinen Spaß. Ist eine reine Vermutung, aber vielleicht erklärt sich ja so auch die von Ihnen zitierte Pressemeldung des "Conseil représentatif des associations noires de France": Es wird davon ausgegangen dass ein Skandal draus wird, also hauen diverse Verbände mal schnell noch eine Pressemeldung raus, in der sie betonen wie schrecklich abstoßend sie das finden. So macht man das doch hierzulande, wenn irgendwer den Eindruck erweckt, als verharmlose er den Völkermord an den Juden (z.Bsp. wenn er das israelische Besatzungsregime mit dem deutschen im 2. Weltkrieg vergleicht). Dann reicht Claudia Roth eine Klage wegen Volksverhetzung ein, sämtliche Parteiensprecher stellen sich vor die Kamera und distanzieren sich und in den Feuilletons schreiben irgendwelche Intellektuellen wie abscheulich das sei - im Wesentlichen springen also alle auf den Zug auf, der traditionell bei so einer Gelegenheit fährt. Es mag Nachteile haben, dass in Deutschland keiner ausflippte wenn bei der Nationalhymne gepfiffen würde, aber es hat auch massive Vorteile: Beispielsweise sind bei uns Debatten undenkbar wie ob bestimmte Meinungen und Gruppen "unpatriotisch" sind, wie man es in der Meinungsschlacht vor dem Irakkrieg in den USA beobachten konnte.
Finde ich auch ziemlich uebertrieben was die franzoesische Regierung da abzieht - und auch nicht sehr praktikabel. Was wenn die Pfiffe bei einem Qualifikationsspiel fallen - wird das dann auch abgebrochen und demzufolge fuer den Gegner gewertet? Und wenn die Pfiffe waehrend der Hymne aus den eigenen Reihen kommen?
Hier geht es weniger um die Republik sondern m.E. nach um "la grande nation" - dieses oft ueberhebliche, verbohrte und geschichtslose Verherrlichen Frankreichs. Von ehemaligen Kolonien wie Tunesien will man sich einfach nichts gefallen lassen - man ist ja schliesslich "la grande nation".
Dass man in Deutschland mit nationalen Symbolen teilweise Probleme hat - auch nicht schoen, aber immer noch eher aushaltbar als das, was da in Frankreich abgeht. Zudem man schon hinsehen muss wer denn diese Probleme hat - ein Walter Jens etwa, ein ewiger Schwafler und after the fact-Widerstaendler. Halte ich fuer nicht stellvertretend fuer Deutschland. Und dass in Deutschland ein moderner, sympathischer Umgang mit nationalen Symbolen moeglich ist, ist doch seit der WM 2006 belegt.
Zitat von OmniAlso ich finde diesen Beißreflex befremdlich und für die Reaktion der französischen Regierung geht mir fast "lächerlich" über die Lippen.
Einen Beißreflex würde ich das nicht nennen. Es ist die Achtung, die man für die eigene Nation verlangt. Die Nation ist eben - ich habe das in dem Artikel zu schreiben versucht - den meisten Franzosen heilig.
Und zwar als eine Republik, die allen Bürgern dieselben Rechte gibt, die aber auch von allen verlangt, daß sie eben ihre Nation respektieren (wer da gepfiffen hat, scheint übrigens unklar zu sein - ob nur tunesische Schlachtenbummler oder oder auch Franzosen maghrebinischer Abstammung).
Zitat von OmniBeim Vaterland reagieren Deutsche nicht so pikiert, das stimmt. Aber es gibt andere Themen. Zum Beispiel beim Holocaust und Israel versteht man in Deutschland überhaupt keinen Spaß.
In Frankreich auch nicht; da gibt es das Gesetz Fabius-Gayssot, das das Leugnen des Holocaust mit Gefängnis bestraft.
Zitat von OmniIst eine reine Vermutung, aber vielleicht erklärt sich ja so auch die von Ihnen zitierte Pressemeldung des "Conseil représentatif des associations noires de France": Es wird davon ausgegangen dass ein Skandal draus wird, also hauen diverse Verbände mal schnell noch eine Pressemeldung raus, in der sie betonen wie schrecklich abstoßend sie das finden.
Kann sein, daß das eine Rolle spielt. Aber ich weiß aus Erfahrung - und schreibe das ja immer mal wieder - daß ein großer Teil der Einwanderer sich in Frankreich wirklich als national gesinnte Franzosen fühlen. Das ist halt ein riesiger Unterschied zur Situation in Deutschland.
Die Einwanderung ist in Frankreich ein soziales Problem, aber kaum ein kulturelles. Daß die Einwanderer gute Franzosen werden, davon geht eigentlich jeder aus. Das Problem ist, daß sie sozial benachteiligt sind.
Bei uns dagegen geht es den meisten Einwanderern viel besser als in Frankreich. Aber wir haben ein massives Problem der kulturellen Assimilation. Und ein - nicht der einzige - Faktor dabei ist das mangelnde deutsche Nationalbewußtsein.
Zitat von OmniEs mag Nachteile haben, dass in Deutschland keiner ausflippte wenn bei der Nationalhymne gepfiffen würde, aber es hat auch massive Vorteile: Beispielsweise sind bei uns Debatten undenkbar wie ob bestimmte Meinungen und Gruppen "unpatriotisch" sind, wie man es in der Meinungsschlacht vor dem Irakkrieg in den USA beobachten konnte.
Hm, lieber Omni: Aus meiner Sicht ist das schon eine wichtige Frage, ob etwas patriotisch ist oder nicht.
Übrigens gab es in den USA vor dem Irakkrieg keine Meinungsschlacht. Es waren ja fast alle dafür, einschließlich der meisten Führer der Demokraten. Obama nicht, aber er spielte damals keine Rolle.
Auseinandersetzungen gab es erst, als der Eindruck entstand, der Krieg sei verloren. Da wollten viele Amis die Boys wieder zu Hause haben, und die Demokraten haben das auszunutzen versucht. Ja auch mit Erfolg, denn sie haben 2006 beide Häuser des Kongresses erobert.
Der Franzos' ist ja ohnehin ein eitler, staatsgläubiger Tropf mit Hakennase. Daher darf man sein Gehupe nicht für voll nehmen. Wußte schon mein Großvater.
Aber die Vertreter aus dem Maghreb sind ja keine Gentlemen, die ehemalige Kolonialisierung übertrieben sportlich nähmen. Das weiß auch jeder. Also haben sich da zwei ungünstige Charaktere gegenübergestanden.
Mich würde übrigens sehr interessieren, wie die britische Presse darauf reagieren würde. Oder die dänsche. Beides Nationen, die Patriotismus durchaus kultivieren. Die Briten würden vermutlich die Nase rümpfen und einen Witz machen. Also ihren Humor auspacken. Sowas kommt den Franzosen offenbar nicht in den Sinn.
Zitat von john jFinde ich auch ziemlich uebertrieben was die franzoesische Regierung da abzieht - und auch nicht sehr praktikabel. Was wenn die Pfiffe bei einem Qualifikationsspiel fallen - wird das dann auch abgebrochen und demzufolge fuer den Gegner gewertet? Und wenn die Pfiffe waehrend der Hymne aus den eigenen Reihen kommen?
Die Regelung soll, lieber John, nur für Freundschaftsspiele gelten. Das mit den eigenen Reihen ist mir auch nicht klar. Aber ich vermute, daß das sozusagen außerhalb der Vorstellungskraft von Sarkozy ist - daß Franzosen ihre eigene Hymne auspfeifen.
Zitat von john jHier geht es weniger um die Republik sondern m.E. nach um "la grande nation" - dieses oft ueberhebliche, verbohrte und geschichtslose Verherrlichen Frankreichs. Von ehemaligen Kolonien wie Tunesien will man sich einfach nichts gefallen lassen - man ist ja schliesslich "la grande nation".
Kleine Randbemerkung: Diese Bezeichnung "Grande Nation" habe ich noch nie in Frankreich gehört oder gelesen. Irgendwie glaubt man in Deutschland, die Franzosen würden sich so nennen. Tun sie nicht.
Tunesien war nie eine französische Kolonie. Es war jahrhundertelang eine türkische Kolonie. (Nur spricht man bei den türkischen Kolonien seltsamerweise nicht von Kolonien, so wenig wie bei den russischen, sondern man sagt: Es gehörte zum osmanischen Reich). Im 19. Jahrhunderts wurde es dann, wie viele Kolonien der Türken, sozusagen allmählich selbständig - der Arm des Padischah reichte immer weniger bis nach Tunis. Die Selbstregierung funktionierte aber schlecht, und das Land erklärte sich bankrott. Es gab dann ein paar Jahrzehnte, in denen Italien und Frankreich um den Einfluß in Algerien rangen, und in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts marschierten schließlich die Franzosen von Algerien (das damals wirklich eine Kolonie war) aus ein und machten Tunesien zu einem Protektorat.
Kolonie wurde es nie; und diese französische Herrschaft dauerte gerade mal ein dreiviertel Jahrhundert; in den fünfziger Jahren wurde Tunesien wieder selbständig.
Zitat von john jZudem man schon hinsehen muss wer denn diese Probleme hat - ein Walter Jens etwa, ein ewiger Schwafler und after the fact-Widerstaendler. Halte ich fuer nicht stellvertretend fuer Deutschland.
Darüber kann man trefflich streiten, lieber John. Mir scheint, daß Jens und diejenigen, die wie er denken, lange Zeit das Meinungsklima in Deutschland bestimmt haben.
Zitat von john j Und dass in Deutschland ein moderner, sympathischer Umgang mit nationalen Symbolen moeglich ist, ist doch seit der WM 2006 belegt.
Man könnte das so sehen. Ich vermute aber immer mehr, daß viele, die da mit schwarzrotgoldenen Fähnchen am Auto herumfuhren, dachten, das seien die Vereinsfarben der deutschen Nationalmannschaft.
Zitat von zettelUnd zwar als eine Republik, die allen Bürgern dieselben Rechte gibt, die aber auch von allen verlangt, daß sie eben ihre Nation respektieren (wer da gepfiffen hat, scheint übrigens unklar zu sein - ob nur tunesische Schlachtenbummler oder oder auch Franzosen maghrebinischer Abstammung).
Zitat von SüddyetDie Französin Lââm, 37, ist Kind tunesischer Eltern, und die Zuschauer auf den Rängen waren fast überwiegend Menschen aus den Pariser Vorstädten, also ebenfalls maghrebinischer Herkunft. Vor dem Anstoß des Spiels der Equipe tricolore gegen Tunesien am Dienstagabend sang die junge Frau die Nationalhymnen.
Doch als sie die Marseillaise anstimmte, war sie kaum zu hören. "Allons enfants de la patrie ..." wurde von Pfiffen übertönt, als sei der falschen Mannschaft ein fauler Elfmeter zugesprochen worden
Es hätte mich auch überrascht, wenn 40.000 Tunesier wegen eines Freundschaftsspiels gen Paris aufgebrochen wären, um dann dort endlich angekommen nichts besseres im Schilde führten als die Nationalhymne des gastgebenden Landes auszupfeifen.
Wir haben es hier auch in Frankreich mit dem Migrationsphänomen zu tun, dass uns schon bei dem Besuch Erdogans berührt hat, die Erstellung einer neuen Identität, die sich zu der von dir angesprochenen sozialen Benachteilung gesellt oder sich aus ihr ergibt und aus der Stärke der Minderheit agiert. Und wie dieses Beispiel zeigt, wird man dann erst wahrgenommen, wenn man dahin tritt wo es wehtut, auch wenn es wie die Süddyet richtig beobachtet hat völlig irrational ist, denn die die Idee die französische Staatsangehörigkeit aufzugeben wird sicherlich auf Unverständnis stoßen. Da ist man doch wieder zu national gesinnt. Es entsteht eine Hybrididentität, die der Assimilation entgegensteht und die tatsächliche Integration aufweicht.Das bietet solchen Strategen, wie der in den Pariser Vostädten als Idol verehrten Tariq Ramadan einen größeren Einfluss als dem dort verhassten Sarkozy.
"Die Regelung soll, lieber John, nur für Freundschaftsspiele gelten."
Schon klar - da geht es ja auch um nichts. Wie gesagt, was passiert wenn es um Punkte geht, oder gar um Weiterkommen oder Ausscheiden bei einem Turnier? Nehme nan das Frankreich dann spielt, Pfiffe hin oder her.
"Kleine Randbemerkung: Diese Bezeichnung "Grande Nation" habe ich noch nie in Frankreich gehört oder gelesen. Irgendwie glaubt man in Deutschland, die Franzosen würden sich so nennen. Tun sie nicht."
Nicht nur in Deutschland, aber gut - ich nehme ihr Wort dafuer.
"...lange Zeit das Meinungsklima in Deutschland bestimmt haben."
Eben - bestimmt haben. Man kann die berechtigte Hoffnung haben dass nun endlich vorbei ist.
"...das seien die Vereinsfarben der deutschen Nationalmannschaft."
Kann sein. Ich war waehrend der WM nicht in Deutschland und musste mich da auf die Medien (ich weiss...) verlassen.
Zitat von zettelUnd zwar als eine Republik, die allen Bürgern dieselben Rechte gibt, die aber auch von allen verlangt, daß sie eben ihre Nation respektieren (wer da gepfiffen hat, scheint übrigens unklar zu sein - ob nur tunesische Schlachtenbummler oder oder auch Franzosen maghrebinischer Abstammung).
Laut Süddyet handelt es sich um Letztere:
Ja, so wird es auch in Frankreich vermutet. Allerdings läßt sich das schwer nachweisen.
Es läuft jetzt nämlich eine polizeiliche Untersuchung, um die Pfeifer ausfindig zu machen; ihnen droht eine Haftstrafe von sechs Monaten plus 7500 Euro Geldstrafe.
Nur, wie kriegt man sie? Die Stadionkameras zeigen nur, wer die Lippen bewegte - aber tat er das nicht, um mitzusingen? Und wer pfiff - wer weiß, vielleicht pfiff der ja die Nationalhymne mit?
Zitat von C.Wir haben es hier auch in Frankreich mit dem Migrationsphänomen zu tun, dass uns schon bei dem Besuch Erdogans berührt hat, die Erstellung einer neuen Identität, die sich zu der von dir angesprochenen sozialen Benachteilung gesellt oder sich aus ihr ergibt und aus der Stärke der Minderheit agiert. Und wie dieses Beispiel zeigt, wird man dann erst wahrgenommen, wenn man dahin tritt wo es wehtut, auch wenn es wie die Süddyet richtig beobachtet hat völlig irrational ist, denn die die Idee die französische Staatsangehörigkeit aufzugeben wird sicherlich auf Unverständnis stoßen. Da ist man doch wieder zu national gesinnt. Es entsteht eine Hybrididentität, die der Assimilation entgegensteht und die tatsächliche Integration aufweicht.
Die aber, dear C., doch sehr von derjenigen der meisten türkischen Einwanderer nach Deutschland verschieden ist.
Diese würden vermutlich nie auf die Idee kommen, das Spielen des Deutschlandlieds auszupfeifen. Sie haben damit einfach nix am Hut, es interessiert sie nicht. Sie sind ja Türken.
Daß die Einwanderer aus dem Maghreb so reagieren, das heißt eben, übersetzt: Wir hassen dieses Frankreich, das uns nicht als vollwertige Franzosen betrachtet.
Ich habe in der Zeit der Unruhen in der Banlieue ziemlich viel französisches TV im Hintergrund laufen gehabt und viele Äußerungen dieser Art gehört. Klagen darüber, daß man benachteiligt wird, wenn man aus einer dieser Vorstädte kommt, wenn man einen arabischen Namen hat usw.
Es ist ein Klassenproblem, nicht ein Problem der nationalen Identität. Wobei natürlich diese soziale Benachteiligung leicht in eine Radikalisierung kippen kann, die dann auch eine andere Identität sucht. Keine nationale, wie bei den Türken in Deutschland - auf Marokko, Algerien, Tunesien stolz zu sein hat man nicht viel Ursache. Aber eine islamistische.
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