Was soll man zu diesem Wahlkampf sagen? Wäre er ein Fußballspiel, die Zuschauer wären längst abgewandert, und zwar die Anhänger beider Mannschaften. Entgegen dem, was ich erhofft hatte, haben auch die Landtagswahlen keine Änderung im Stil dieses Nicht-Wahlkampfs gebracht.
Wie wenig sich die Situation durch diese Wahlen geändert hat, zeige ich in dem Artikel anhand der aktuellen Umfragedaten.
Spannend freilich ist der Wahlkampf in gewisser Weise doch: Es ist völlig offen, wer gewinnen wird. Irgendein Ereignis kann entscheidend werden; eine kleine Kraft, die aber das System aus seinem indifferenten Gleichgewicht hinausbefördert.
Zur Vorbereitung des Artikels habe ich mir noch einmal meine Serie über den US-Wahlkampf angesehen. Was war da los! Wie war da die ganze Nation engagiert! Wie anders war die Stimmung als jetzt in Deutschland.
Auch in Deutschland hat es solche leidenschftlichen Wahlkämpfe gegeben. 1953 zum Beispiel, als es um die endgültige Weichenstellung für die soziale Marktwirtschaft und die Westbindung ging; 1972 die "Willy"-Wahl; vier Jahre später "Freiheit statt Sozialismus"; 1980 Strauß gegen Helmut Schmidt und 1990 Oskar Lafontaine gegen Kanzler Kohl.
Nichts dergleichen diesmal. Und das ist im Grunde sehr seltsam. Denn es geht ja auch jetzt wieder um nicht weniger als um Freiheit oder Sozialismus. Nur sagt das keiner.
In der Welt am Sonntag steht heute ein langes Interview mit Franz Müntefering.
Sehr lesenswert. Münteferings strategische Quintessenz:
Zitat von Franz MünteferingDie SPD hat seit Sonntag zusätzliche Kraft gewonnen, weil noch mal klarer ist, dass nichts entschieden ist. Die Wahlkämpfer wissen, dass es sich lohnt zu kämpfen.
Da hat er leider Recht. Skurril allerdings ist es, wie sich Müntefering den Kopf der FDP zerbricht. Auf die Frage: "Warum glauben Sie eigentlich, dass sich FDP-Chef Westerwelle auf die SPD einlassen würde?" antwortet er:
Zitat von Franz MünteferingWeil er und andere Liberale regieren wollen. Weil auch er älter wird. Außerdem glaube ich, dass die FDP eine ganz einfache Rechnung aufgemacht hat: Bei den Umfragen ist die FDP vor allem durch ehemalige CDU-Wähler stärker geworden. Diese Stimmen würden die Liberalen in einer schwarz-gelben Koalition wieder verlieren. In einer Koalition mit der SPD würden sie eher noch Stimmen von CDU/CSU hinzugewinnen. Der Anfang einer Zusammenarbeit mit uns wäre für die Liberalen sicher komplizierter. Mittelfristig würde es die FDP in ihrem Profil aber stärken.
Offenbar hat Müntefering vergessen, daß die FDP in der sozialliberalen Koalition diese Wahlergebnisse hatte: 1972: 8,4 - 1976: 7,8 - 1980: 10,6.
Bei den Kollegen vom Antibürokratieteam ist seit heute Nachmittag eine Analyse von Fritz Goergen zu lesen, früher Wahlkampfberater u.a. von Guido Westerwelle. Er kommt zu einer ähnlichen Lagebeurteilung wie ich in dem Artikel.
Besonders hinweisen möchte ich auf das, was Goergen am Schluß schreibt:
Zitat von Fritz GoergenSeit den Landtagswahlen am vergangenen Sonntag sinken die Mehrheitschancen von Schwarz-Gelb. Die strukturelle Mehrheit der Bonner Republik war rechts. Der letzte Sonntag zeigt jedem, der genau hinschaut: Die strukturelle Mehrheit der Berliner Republik ist links.
Ob die Landtagswahlen für sich genommen wirklich diesen Rückschluß erlauben, erscheint mir zwar fraglich; da spielten regionale Faktoren im Saarland und in Thüringen wohl doch eine entscheidende Rolle. Aber im Ergebnis gebe ich Goergen Recht: Seit der Wiedervereinigung hat Deutschland eine strukturelle linke Mehrheit.
"Strukturell", das heißt: Wenn nicht andere, aktuelle Faktoren dies überlagern, dann wählt die Mehrheit links. Nicht diejenige der alten Bundesrepublik; diese ist und bleibt mehrheitlich liberalkonservativ. Sondern die Mehrheit Gesamtdeutschlands. Die Ex-DDR ist noch immer so wesentlich vom Geist der DDR geprägt, daß die dortige massive linke Mehrheit (sieht man von Sachsen und zeitweilig Thüringen ab) im Saldo zu einer linken Mehrheit in Deutschland führt.
Über diese strukturelle linke Mehrheit und die zwingende Folgerung daraus, daß die Entwicklung auf eine Volksfront zusteuert, habe ich in ZR immer wieder geschrieben. Erstmals habe ich darauf im Januar 2007 hingewiesen; dann wieder zum Beispiel Mitte April 2007 und zuletzt im Mai dieses Jahres.
Schwarzgelb liegt seit etlichen Monaten deshalb in den Umfragen leicht vorn, weil der Union und der FDP eher zugetraut wird, Deutschland aus der Krise zu führen, als einer Volksfront; und weil speziell der Kanzlerin in dieser Hinsicht mehr Kompetenz zugetraut wird als Steinmeier.
Aber man muß sich das vor Augen halten: Merkel hat im Vergleich mit Steinmeier einen riesigen Vorsprung. Der Wahlkampf der Union ist ganz auf sie zugeschnitten. Dennoch liegt die Union bei nicht mehr als 35 bis 37 Prozent. Deutlicher kann es kaum zum Ausdruck kommen, wie fragil der Vorsprung von Schwarzgelb ist.
Goergen hat unrecht: Es gibt keine "strukturelle linke Mehrheit" in Deutschland. Es gibt ein diffuses Unentschieden.
Die Verluste der CDU in letzter Zeit sind ja wesentlich eine Normalisierung verglichen zur Hochphase der End-Schröder-Zeit. Sie stellt aber immer noch die deutliche Mehrzahl der Ministerpräsidenten, regiert fast überall mit. 80% der Bundesbürger werden in den Ländern schwarz-gelb regiert. Auch kommunal - früher deutlich SPD-lastig - stehen die Bürgerlichen gut da.
Selbstverständlich heißt das alles nicht, daß der 27.9. entschieden wäre - ganz im Gegenteil, es wird eng. Und es wird sich wahrscheinlich auf den letzten Metern entscheiden, vielleicht fast zufällig durch die Wirkung kleinerer Ereignisse, die bei schwacher Wählerbindung einige Leute zum Umschwenken veranlassen könnten.
Dennoch sind die Aussichten für schwarz-gelb etwas besser (das 1:0 paßt immer noch), alleine schon weil die SPD in ihrem strategischem Dilemma weiterhin große Mobilisierungsprobleme hat.
Alles in allem sehe ich überhaupt keine Belege für die behauptete linke Mehrheit.
Zitat von R.A.Goergen hat unrecht: Es gibt keine "strukturelle linke Mehrheit" in Deutschland. Es gibt ein diffuses Unentschieden. Die Verluste der CDU in letzter Zeit sind ja wesentlich eine Normalisierung verglichen zur Hochphase der End-Schröder-Zeit. Sie stellt aber immer noch die deutliche Mehrzahl der Ministerpräsidenten, regiert fast überall mit.
Ich fürchte, lieber R.A., Goergen hat schon Recht. Ich glaube das auch deshalb, weil ich diese These ja selbst seit Jahren verfechte.
Sie haben Recht: Die Union verliert jetzt in Relation zu der Situation vor fünf Jahren. Aber das scheint mir gerade ein Armument für eine linke strukturelle Mehrheit zu sein. Denn diese damalige Situation spiegelte eben nicht die strukturellen Mehrheitsverhältnisse wider, sondern das Desaster der rotgrünen Regierung.
So, wie die momentane Situation von der Krise bestimmt wird und der Erwartung, daß Merkel damit besser umgehen kann als Steinmeier. Das führt zu dem knappen Vorsprung von Schwarzgelb auf der Bundesebene. Die Ergebnisse aus Thüringen und dem Saarland zeigen aber, daß es in den Ländern anders aussehen kann. Auch wenn dort natürlich lokale Faktoren auch eine Rolle spielten.
Ich habe, lieber R.A., meine Diagnose einer linken strukturellen Mehrheit daraus abgeleitet, daß seit den Wahlen 2005 bei den meisten Umfragen die Volksfront vor Schwarzgelb gelegen hat; siehe zB diesen Artikel in ZR. Allenfalls gab es einmal einen Gleichstand, ganz selten einen Vorsprung für Schwarzgelb. Das hat sich erst in diesem Jahr geändert, als der Eindruck sich zu bilden begann, daß die Kanzlerin uns überraschend gut durch die Krise gebracht hat. Auch der Höhenflug der FDP geht ja auf den Anfang dieses Jahres zurück.
Man kann es auch soziologisch sehen: In der alten Bundesrepublik ergab sich die liberalkonservative Mehrheit vor allem aus der Existenz einer intakten bürgerlichen Mittelschicht. Wo diese dominiert, wie in Bayern und Baden-Württemberg, da regierte Liberalkonservativ so gut wie immer. Wo sie stark ist, aber nicht so dominierend, wie in Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, da wechselten die Regierungen. In den großen Städten und den Industriegebieten gab es lange Zeit eine stabile linke Mehrheit. Diese ist zwar durch die Spaltung der Linken im Augenblick geschwächt, aber sobald SPD und Kommunisten überall zusammenarbeiten, wird sie wieder da sein.
In der DDR haben die Kommunisten die bürgerliche Mittelschicht systematisch zerstört; allenfalls in den beiden südlichen Ländern Sachsen und Thüringen gab es noch Reste von ihr. Deshalb ist die Ex-DDR strukturell links und wird es auf absehbare Zeit bleiben. Zusammen mit den linken Regionen und Schichten im Westen bedingt das strukturelle eine Mehrheit.
Zitat von ZettelIch glaube das auch deshalb, weil ich diese These ja selbst seit Jahren verfechte.
Ich weiß, eines unserer Lieblingsthemen.
Der Punkt ist nur: Sie machen das an Umfragewerten fest (haben wir eigentlich schon darüber diskutiert, wie sich die Umfrageinstitute bei den Landtagswahlen wieder blamiert haben?) Ich dagegen nehme die Wahlergebnisse und die daraus resultierenden Machtverhältnisse. Und wenn es danach geht, sieht Deutschland strukturell überhaupt nichts links aus.
In Antwort auf:Die Union verliert jetzt in Relation zu der Situation vor fünf Jahren. Aber das scheint mir gerade ein Armument für eine linke strukturelle Mehrheit zu sein. Denn diese damalige Situation spiegelte eben nicht die strukturellen Mehrheitsverhältnisse wider, sondern das Desaster der rotgrünen Regierung.
Soll heißen: Wenn die CDU gewinnt, ist das für sie die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Und wenn sie verliert, entspricht es der Regel.
Mit dieser Methode kann man genausogut eine rechte wie eine linke strukturelle Mehrheit in Deutschland "beweisen" - es ist aber wohl realitätsnäher anzunehmen, daß keine Seite eine strukturelle Mehrheit hat, daß aber die Wähler ziemlich volatil sind.
In Antwort auf:aber sobald SPD und Kommunisten überall zusammenarbeiten, wird sie wieder da sein.
Wenn das so einfach wäre, hätte die SPD schon längst flächendeckend die Linksfront gemacht. Sie tut es aber aus gutem Grund nicht: Wenn sie konkret mit den Kommunisten zusammen geht, verliert sie in der Mitte. Und dann ist schon wieder Schluß mit der Mehrheit.
In Antwort auf:Deshalb ist die Ex-DDR strukturell links und wird es auf absehbare Zeit bleiben.
Die ist in der Tat strukturell links. Aber ob sie es bleibt, ist unsicher - die Jungwähler (damit meine ich die unter 60!) sehen das deutlich anders als die SED-fixierten Rentner.
Und gleichzeitig erodieren die linken Milieus im Westen, gerade übrigens auch in Richtung FDP.
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