Gestern ging es in einem anderen Forum etwas lebhaft zu; deshalb ist der Blog zu Luther leider erst kurz nach Mitternacht fertig geworden. Also streng genommen nicht zum Reformationstag, sondern zu Allerheiligen.
In dem Städtchen, in dem ich teilweise aufgewachsen bin, gab es ungefähr zur Hälfte Protestanten und Katholiken. Allerheiligen war der Feiertag der katholischen Kinder; ein richtiger Feiertag, arbeitsfrei. Der Reformationstag war unser Feiertag, der der protestantischen Kinder. Kein gesetzlicher Feiertag, leider. Aber die Evangelischen brauchten nicht in die Schule zu gehen, sondern durften in den Gottesdienst.
Zum Festgottesdienst in der kleinen, kargen Kirche, in der unser lutherischer Pfarrer predigte, in der die Orgel hinter unseren Köpfen dröhnte und wo man "Ein fest Burg ist unser Gott" sang. Mit einer Predigt, in der es meist um den Römerbrief ging.
Daß uns da nicht einfach Christentum, sondern lutherische Theologie gepredigt wurde, ahnten wir als Kinder und Jugendliche natürlich nicht. Aber sie hat mich sehr beeindruckt und bedrückt, diese lutherische Theologie, so wie sie uns da entgegentrat, wuchtig und erbarmungslos.
Erbarmungslos? Nun, es war letztlich eine Theologie der Gnade, der Erlösung durch den Glauben und durch das Blutopfer Christi. Aber erbarmungslos war sie doch, weil sie uns jeden Stolz nehmen sollte, alle Hoffnungen darauf, aus eigener Kraft gute Menschen zu werden.
Ob das wirklich die Luther'sche Theologie war oder nur eine ad usum Delphini zurechtgestutzte Form - ich weiß es nicht, weil ich kaum etwas von Luther gelesen habe, außer als Jugendlicher das Fischer-Taschenbuch mit Luther-Texten, herausgegeben von Hellmut Gollwitzer.
Vielleicht weiß es ja jemand, der sich besser auskennt als ich. Würde mich interessieren.
Die Quintessenz dort ist die Simultanität der Heilstat Gottes in Christus UND der Heilstat am angefochtenen Menschen. Beides koinzidiert. Und das Lied aktualisiert noch diese Koinzidenz. Das dürfte theologisch und hymnengeschichtlich einmalig sein.
Wir haben ja in der Schule und im Konfirmandenunterricht noch fleißig "auswendig gelernt", auch solche Hymnen, die im Gesangbuch stehen. Die erste Strophe kann ich noch so ungefähr auswendig, danach wird's matter. Ich glaube auch, daß wir nicht alle Strophen lernen mußten, vielleicht gar nicht alle im Gesangbuch standen. Sicher die ersten beiden und dann irgendeine, die von der Wende zum Guten kündet.
Mir ist, als ich das jetzt, nach langer Zeit, gelesen habe, wieder die Sprachkraft von Luther aufgefallen. Er war kein Philosoph, das habe ich ja im Blog hervorgehoben. Er war aber nicht nur Theologe, sondern - darauf hätte ich vielleicht eingehen sollen - vor allem Dichter. Ein Mann mit einem ungeheuren Sprachgefühl. Und einer, der - diese Woche steht's im Spiegel - auf äußerste Genauigkeit bei seinen Übersetzungen bedacht war; der zum Beispiel sich von einem Metzger die Bezeichungen für die einzelnen Teile des geschlachteten Tiers erklären ließ.
Und noch etwas macht die Hymne, finde ich, sehr deutlich: Die erwähnte Nähe Luthers zur modernen Lebensphilosophie, zum Existenzialismus (oder natürlich, besser gesagt: umgekehrt - deren Nähe zu Luther). Kierkegaard könnte auch so etwas gedichtet haben; nur ohne die Wende zu Guten. Heidegger war zwar Katholik, aber sein "Geworfensein", seine "Angst" als die Grundbefindlichkeit des Menschen - das scheint mir doch sehr ähnlich zu sein wie bei Luther. Nur daß dieser eben den Ausweg des Glaubens fand.
Zitat von OdysseusDie Quintessenz dort ist die Simultanität der Heilstat Gottes in Christus UND der Heilstat am angefochtenen Menschen. Beides koinzidiert. Und das Lied aktualisiert noch diese Koinzidenz. Das dürfte theologisch und hymnengeschichtlich einmalig sein.
Hm, das verstehe ich nicht ganz, mangels theologischer Kenntnisse. Das Aktualisieren, das verstehe ich - Luther bezieht die Heilstat auf sich, nimmt sie sozusagen an. Aber was ist die Koinzidenz? Ich meine, was ist denn die Heilstat in Christus anderes als die Heilstat am Menschen? Muß das nicht notwendig koinzidieren, weil es zwei Seiten desselben Geschehens sind? Oder anders gefragt - wie sollte das eine ohne das andere aussehen?
>> Die Quintessenz dort ist die Simultanität der Heilstat Gottes in Christus UND der Heilstat am angefochtenen Menschen. Beides koinzidiert. Und das Lied aktualisiert noch diese Koinzidenz. Das dürfte theologisch und hymnengeschichtlich einmalig sein. --------------------------------------------------------------------------------
> Hm, das verstehe ich nicht ganz, mangels theologischer Kenntnisse. Das Aktualisieren, das verstehe ich - Luther bezieht die Heilstat auf sich, nimmt sie sozusagen an. Aber was ist die Koinzidenz? Ich meine, was ist denn die Heilstat in Christus anderes als die Heilstat am Menschen? Muß das nicht notwendig koinzidieren, weil es zwei Seiten desselben Geschehens sind? Oder anders gefragt - wie sollte das eine ohne das andere aussehen?
Heilsgeschichtlich kann ich doch die Erlösungstat des historischen Jesus am Kreuz ohne weiteres isolieren vom hic et nunc des einzelnen Menschen in seinem jeweiligen Elend. Dann redet die Christologie von zweitausend Jahre alten Geschehnissen, und die Soteriologie versucht diese dann nachträglich, irgendwie auf den Gegenwartsmenschen zu applizieren. Anders bei Luther und seinen Liedern: Koinzidenz meint hier, dass die Christologie nichts anderes ist als Soteriologie: was Christus ist, ist er pro nobis, also für uns. Wer das Lied "Nun freut euch, lieben Christengmein" im Glauben singt, der memoriert nicht einfach Vergangenes, sondern an dem geschieht die Heilsgeschichte von neuem, sie aktualisiert sich.
Zitat von OdysseusHeilsgeschichtlich kann ich doch die Erlösungstat des historischen Jesus am Kreuz ohne weiteres isolieren vom hic et nunc des einzelnen Menschen in seinem jeweiligen Elend. Dann redet die Christologie von zweitausend Jahre alten Geschehnissen, und die Soteriologie versucht diese dann nachträglich, irgendwie auf den Gegenwartsmenschen zu applizieren.
Ja, danke, jetzt verstehe ich das (vielleicht). Wenn ich es jetzt richtig verstehe, dann wäre es ein weiterer Hinweis auf die Nähe der Existenzphilosophie zu Luther? Bei Kierkegaard, bei Heidegger ist ja im Grunde auch immer von der conditio humana die Rede; auch wenn vom Seienden gesprochen wird. Denn sofort danach kommt ja das "Geworfensein".
Vielleicht ist es genau das, was mir den Zugang zu dieser Denk- oder vielmehr Fühlensweise schwer macht. Jeder mag ja seine Probleme haben, große oder kleine, auch existentielle. Aber die conditio humana als ein Elend, als ein Geworfensein, gar als Angst sehen, wie der junge Heidegger - das kann ich nicht nachvollziehen. Es scheint mir Ausdruck einer depressiven Konstitution zu sein, die ja wohl auch bei Luther zu vermuten ist; nicht eine treffende Kennzeichnung der conditio humana.
Und dies Kindern und Jugendlichen nahezubringen zu versuchen, die überhaupt nichts damit anfangen können, weil sie sich aufs Leben freuen und es positiv sehen wollen - das erscheint mir sehr problematisch. Nicht nur wegen meiner Erfahrung, obwohl auch deshalb.
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